Zapping • Slapping • MappingDer entfesselte Blick[1]Die Trennung des Blicks vom Körper wurde lange vor Entwicklung von Fotografie, Film und Video mythisch ersehnt und von Kunst und Literatur fiktional antizipiert. Aber erst die technische Doublierung löst den Augapfel aus der Höhle des Schädels und macht ihn zu einem Gummiball, der entfesselt von physischen Grenzen umherspringt und die Welt aus allen erdenklichen Blickwinkeln erkundet. Das Sehen erfolgt aus der Frosch- und Vogelperspektive, aus der Anschauung molekularer Teilchen, fremder Planeten oder schlicht aus dem Beobachterstandpunkt eines Gegenübers. Das Auge „avatarisiert“, indem es in andere Räume und Körper übersetzt und aus der Perspektive fremder Wesen sieht. Es expandiert, disloziert und transformiert Wahrnehmung und begründet das ästhetische Paradigma des modernistischen Sehens. Künstler, Fotografen und Filmemacher wie Dziga Vertov registrierten als erste die neuen perzeptiven Konditionen. In „Kino Auge“ wirbelt die Kamera durch die Stadt, dringt in alle Ritzen vor, bereist mikro- und makroskopische Räume, spiegelt sich in der Umgebung und interferiert mit dieser. Die Wirklichkeit zerspringt im Spiegel der Medien und erweist sich in der Erfahrung des zappelnden Auges als relativistisch: Räumliche Dimensionen verschieben, zeitliche dehnen oder beschleunigen sich. Die Splitter erzählen von der in Unordnung geratenen Vorstellung eines homogenen konsistenten Seins und reflektieren die Selbstbilder, die sich spektral auffächern und synthetisch rekombinieren. Das Kameraauge bewegt sich nicht nur im Raum, es vermisst ihn auch. Als François Arago an der Académie Française die Daguerreotypie vorstellte und die technische Innovation verteidigte, indem er den Fotoapparat nicht als Medium und Spielzeug von Kunst und Unterhaltung würdigte, sondern seine Bedeutung als wissenschaftliches Instrument der Licht- und Raummessung hervorhob, argumentierte er in der Bildtradition der Renaissance. Wie bei Piero della Francesca, Filippo Brunelleschi oder Dürers „Underweysung der Messung“ geht es bei der Herstellung technischer Bilder um die Quantifizierung von Realität. Der Fotoapparat als bildgebendes Verfahren der Wissenschaften reiht sich in ein epistemisches Projekt der Neuzeit ein, dessen Wesen nach Heidegger „die Eroberung der Welt als Bild“[2] ist. Der entscheidende Unterschied zu früheren Abbildungsverfahren liegt neben der Automatisierung im Wechsel der Blickrichtung. Ab nun sind wir die Objekte, und die Apparate und Maschinen werden zu Subjekten, die uns untersuchen. Die Differenz zwischen Subjekt und Objekt verwischt, was in der Namensgebung für die Medientechnologie Video (lat. ich sehe) auf den Punkt kommt. Dem technischen Gerät wird ein Ich und Subjekt zugesprochen, das einen autonomen Blick und eine Eigenlogik des Sehens unterstellt. Die Videokamera fungiert daher nur oberflächlich betrachtet als Prothese wie eine Brille, ein Tele- oder Mikroskop, vielmehr liegt ihre Bestimmung in einer Kybernetik des Sehens, in der Konstituierung optischer Regelungs- und Vernetzungsprozesse, die psychische und soziale Parameter steuern. In seinem einfachen Stadium präsentiert sich Video als Ich-Verstärker und biografischer Speicher individueller Erfahrungen, die den privaten Gebrauch in Alltag, Familie und Freizeit dominieren. Überspitzt formuliert, handelt es sich in Anlehnung an die etymologische Bedeutung von Ideotie um „Videotie“. Filmende Touristen, Eltern, Hochzeitsgäste oder Trends, wo in Form des so genannten Happy Slapping Mutproben und Gewaltdemonstrationen für die Kamera performiert werden, sind Ausdruck einer technischen Anwendung, die einerseits als simple Prothese und Spielzeug operiert, andererseits ganze Lebensaspekte einer medialen Inszenierung unterwirft. Der Einsatz von Video irritiert und verändert selbst im Privaten homogene Raum- und konsistente Selbstkonzepte und weicht überkommene Weltbilder auf, die auf einer Subjekt-Objekt-Spaltung beruhen. Das Private wird zum Trainingslager medialer Logiken, die Video in Richtung „videor“ (lat. gesehen werden) verlagern. Der entfesselte Blick, der sich gegenüber der physischen Verortung emanzipiert, kann nicht länger als Ausweitung der Sehzone im Sinne McLuhans „extensions of man“ begriffen werden. Er konstituiert ästhetische Bedingungen, die mit zunehmenden Grad ihrer Komplexität und Vernetzung sich verselbständigen und eine von herkömmlichen Wahrnehmungsstrategien und Raumkonventionen unabhängige Logik etablieren. Zapping, Switching oder Channel Hopping sind weit mehr als eine Praxis des Fernsehens; in ihnen artikulieren sich das Verhältnis zur Wirklichkeit, der Umgang mit Kontingenz und die Produktion von Selbstkonzepten. Ausgehend von Programmen des Modernismus, mittels derer die Mediatisierung des Blicks durch Fotografie, Film und Television ihren Ausgang nahm und die Transformation von Stadt-, Unterhaltungs- und Konsumräumen als Vorbedingung heutiger Zapping-Zonen begann, stellt Zapping als Reaktion auf Pluralität und Welthaltigkeit gleichzeitig das Symptom eines gesellschaftlichen Zustandes sowie die Strategie eines individuellen Umgangs dar. Im Sinne von Zapping schweifen im Folgenden die Betrachtungen zwischen drei „Kanälen“, die technische, massenmediale und identitätspolitische Zonen behandeln. Während die technischen Zapping-Zonen der Naturwissenschaften das Menschenbild einer Epistemologie des objektiven Blicks zum Zwecke der Zerlegung von Körpern in Oberflächen unterwerfen, wird in den massenmedialen Zapping-Zonen (vermeintliche) Kontingenz vor Augen geführt, die Redundanz für Schematisierungen provoziert. Aus den massenmedialen Zapping-Zonen resultieren die Slapping-Zonen, in denen Aufmerksamkeitsrituale, Identitätsprojekte und Selbstdarstellungen inszeniert werden. Was sich dadurch ändert, ist der Status der Bilder an sich und die Erfahrung von Raum als sozio-mediales Konstrukt, woran sich Fragen nach Möglichkeiten der Resubjektivierung, Orientierung und Navigation schließen. NeokabbalismusDie zwei bestimmenden ästhetischen Logiken, die das Wahrnehmungsparadigma des gedoubelten Auges prägen, sind Teil eines epistemischen und eines integrativen Projekts. Die erste Logik folgt der Leitformel der Moderne, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Sie nutzt den entfesselten Blick als Sonde, um in verborgene Welten vorzudringen und wissenschaftliche Bilder als Träger von Erkenntnissen und Garanten für Wahrheitsbeweise zu gewinnen. Das Programm von Aufklärung und Rationalismus mündet in einer universellen Visualisierungstendenz – in der Zapping-Zone der Naturwissenschaften -, bei der Sehen und Messen zu Synonymen für einen sezierenden und scannenden Blick werden. Von der Röntgenfotografie bis zur Computertomografie, vom Elektronenmikroskop bis zum Hubble-Teleskop zeugen die tiefen Blicke der Technologie von einer Bild gewordenen Realitätsleidenschaft. Die Welt entfaltet sich vor den Objektiven in Oberflächen, die wiederum zur Schnittstelle für technische Programmierungen werden. Genau hier greift die zweite Logik antagonistisch in die erste und fokussiert Resynthesen der vorausgegangenen Zerlegungen. Aus der „Gewahrwerdung von Weltwerdung durch Bildwerdung“ resultieren die Möglichkeiten der Imitation natürlicher Ordnungen durch technologische Materialisationen, die wiederum in den Dienst des epistemischen Projektes gestellt werden, womit Bilder Apparate schaffen, die neue Bilder hervorbringen. In der Geschichte der Fotografie begegnen uns diese Schleifen der Technogenese unentwegt: als Vorspiele künstlerischer, metaphysischer und philosophischer Experimente mit der Camera obscura, als Umkehrung der Transzendenz in maschinische Introszendenz mit Entwicklung des fotografischen Apparats, als dadurch ausgelöste Entdeckungen - etwa der Röntgenstrahlung oder der Radioaktivität - sowie als deren Nutzbarmachung in zuvor unbekannten Anwendungen. Die Erkenntnisse fügen sich zu Bauplänen des integrativen Projekts, woraus die imitativen, aber auch die referenzlosen Doubles wachsen, die Natur evolutiv in Technik fortschreiben. Diese grobe Vereinfachung ästhetischer Theorie bietet den Vorteil eines kontrastreichen Blicks auf technische Bilder, der verdeutlicht, dass Medienästhetik Schnittstellen verhandelt. Bilder verschmelzen mit den Apparaturen, Systemen und vernetzten Dispositiven zu „Environments“ und gehen über den traditionellen Charakter von Spiegelungen, Projektionen oder Modellen weit hinaus. Nach Uwe Pörsken schieben sich Medien in einem doppelten Sinn vor die Wirklichkeit, nicht nur als Mittler, sondern auch als ihr einzig greifbarer und scheinbar objektiver Reflex: „Die Instrumentenbilder selbst sind die Botschaft. Sie sind in ungezählten Blickrichtungen, zusammen mit dem sie hervorbringenden künstlichen Auge, der Mittler zwischen Mensch und Gegenstand und treten zugleich an die Stelle des so genannten Referenten, setzen sich im gewissen Sinne an die Stelle des Gegenstandes.“[3] Hinzuzufügen ist, dass sie den Referenten nicht nur verdrängen, sondern auch künstlich zeugen. Wenn referenzlose Symbole und Bilder aus der Zeichenebene in die materielle Wirklichkeit kippen und sich dort zu Gegenständen „molekularisieren“ – etwa durch 3D-Printer oder in zukünftigen Genlaboren -, kommt es zu einer Art Neokabbalismus. Computerbilder erschaffen nicht einzig immaterielle Räume und nivellieren die Zäsur zwischen materieller Wirklichkeit und digitaler Virtualität, sie informieren auch Materie. Diese „Bilder“ wirken nicht einseitig in eine Richtung, wie uns beispielsweise ein zentralperspektivisches Tafelbild immersiv in eine virtuelle Welt saugt, sie agieren wechselseitig. Wenn wir über ein Bild am Computermonitor eine Aktion im realen Raum auslösen und materielle Dinge steuern und hervorbringen, wandelt sich der Status des Bildes. Das Bild sprengt die Zeichenebenen und ist in Kategorien wie „Ikon“ oder „Index“ nicht beschreibbar, weil es systemisch und algorithmisch mit Objektebenen hybridisiert. Es ergreift Besitz von Gegenständen, Räumen und selbst von unserem Körper. Insofern sind technische Bilder nicht Abbild einer Logik, sondern integraler Bestandteil derselben, was umso deutlicher wird, wenn sie anstatt für Menschen für Maschinen in automatisierten Prozessen generiert und verarbeitet werden. PosthumorismusDennoch gibt es eine massenmediale Seite des integrativen Projekts, auf der Bilder als „Images“ das kulturelle Gedächtnis speisen. Dieser Aspekt macht Ästhetik zu einer Integrationsdisziplin, bei der über Redundanz Identität gestiftet sowie für den nötigen Abgleich und Austausch zwischen Individuen gesorgt wird. Massenmedien produzieren Bildwirklichkeiten, über die wir Zuschreibungskonzepte und Stilisierungen erlernen, um soziale Kompatabilität und Komparabilität mimetisch über Habitus, Diskurse, Moden und dergleichen mehr einzustudieren. Diese zunehmende Beeinflussung von Kognition, Sprache und Handeln durch Bilder beschreibt der so genannte „iconic turn“. Die Macht der Bilder liegt hierbei nicht im singulären Blick, im subjektiven „Video“, vielmehr im Bewusstsein eines „videmus“ (lat. wir sehen), eines gemeinsamen Sehens, das Menschen zu einer „imagined community“ verschweißt. Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte werden über ein kollektives Auge wahrgenommen, das ein visuelles Archiv aufstaut und Kultur zur Schnittmenge gemeinsam konsumierter Bilder macht. Je weniger Bilder wir in uns tragen, die direkt und nicht medial vermittelt sind, desto geringer wurzelt das Bildergeflecht in persönlichen Erfahrungen und Anschauungen. Über Personen, Parteien, Institutionen, ganze Länder und Kulturen setzen uns Medienangebote, Werbung und Images sprichwörtlich ins Bild. Aufgrund der massenmedialen Multiplikation und Omnipräsenz können Individuen Bildern unterstellen, dass alle innerhalb einer visuellen Gemeinschaft diese kennen und teilen, womit bereits die gegenseitige Annahme eines kollektiven Bilderwissens integrativ wirkt. Die Unterstellung verursacht den konditionierenden Zwang, der den sozialen Klebstoff innerhalb der Bilderherrschaft bereitstellt. Mediakratie wird zu einer mediokren Angelegenheit, denn die ikonographischen Codierungen für das alltägliche Überleben funktionieren nach dem Prinzip des vorauseilenden Gehorsams: man gibt sich Meinungen und Trends im Glauben hin, dass andere diese ebenfalls als operable Möglichkeit verfolgen. Die massenmedialen Zapping-Zonen werden zu Slapping-Zonen, die an der Schnittstelle von Psyche und Medien Aufmerksamkeit versprechende Samples in Identitätsprojekte und Lebenskonzepte integrieren. Im Verhältnis von Redundanz zu Rauschen pegelt sich die mediokre Balance der Bilder ein, die Subjekte vor die Wahl stellt, entweder zu integrieren oder exkludiert zu werden, in oder out zu sein. Wer am öffentlichen Leben im Sinne von Markt und Aufmerksamkeit ökonomisch, politisch oder allgemein gesellschaftlich teilnehmen möchte, hat dies teuer mit direkten oder indirekten Werberitualen zu bezahlen. Das Gleichgewicht des Mittelmaßes kann nur stören, wer bereit ist, ein Spektakel zu inszenieren und mitunter sein Leben aufs Spiel zu setzen. Diesbezüglich benötigen Selbstmordattentate keinen religiösen oder ideologischen Hintergrund, denn terroristische Aktionen teilen mit Slapping-Ritualen den Hunger nach Aufmerksamkeit. Aktueller Terrorismus ist Entertainment des 21. Jahrhunderts, dessen eigentlicher Tatort mediale Bühnen sind, auf denen Provokationen als verschärfte Kommunikationsstrategien sich dem Wettkampf der Aufmerksamkeitsgewinnung stellen.[4] Die primäre Wertschöpfung derartiger Unternehmen liegt in der Vorbild- und Matrizenhaftigkeit, die einen Drang der Nachahmung auslösen und damit die Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung befriedigen. Egal ob Menschen von einem Fahrrad gestoßen, zu Tode getrampelt oder gesprengt werden, der „Witz“ an der Sache liegt im Schock, der die Konventionen und Regeln von „Humor“ durchbricht. Slapstick, wie sie in Form von Home-Videos und eigenen Sendeformaten im TV, im Internet und über Mobiltelefone Verbreitung findet, verläuft immer seltener im Als-ob-Modus der Komödie, wie wir sie von sich massakrierenden Mäusen und Katzen in Zeichentrickfilmen und dergleichen kennen. Situationskomik entspringt der Realität und bedient sich überraschender Momente, was sowohl für gespielte als auch für zufällig sich ereignende Szenen zutrifft. Geplante Aktionen, arrangierte Provokationen, aber auch Unfälle können mit Humor genommen werden, wenn der Alltag sich unbeschadet fortsetzen lässt. Die Norm der Komik basiert in jedem dieser Fälle auf einer Normirritation der Alltagserfahrung, die durch ungewöhnliche Situationen und unvorhergesehene Kontexte die Labilität des vermeintlich sicheren Lebens in scheinbar geordneten Umwelten vor Augen führt. Die Kontingenz und Zerbrechlichkeit der Normalität wird kurzzeitig sichtbar gemacht, um im Gelächter darüber diese zu stabilisieren. Bei Terror und Slapping bleibt diese Rückkehr in Alltag und Normalität verwehrt; das Lachen stellt sich nicht ein, weil die Erleichterung ausbleibt. Während „komische“ Slapstick eine Übung für Kontingenz und Möglichkeitssinn darstellt, sind Happy Slaps und Terrorakte nicht „lustig“, da sie die Realität nachhaltig irritieren. Durch die Kraft des Tabubruchs soll die herrschende Ordnung suspendiert und Aufmerksamkeit generiert werden. Je mehr diesen Ausnahmezustand ernst nehmen und je bildhafter er sich massenmedial ins kollektive Gedächtnis einbrennt, desto wirkungsvoller die Aufwertung der involvierten Personen. Für hoffnungslose Subjekte liegt die Attraktivität des Verlassens der Normalität in der Chance auf einen „sozio-medialen Schmetterlingseffekt“, der sie für einen Moment aus dem Gefühl von Anonymität, Gettoisierung und Diskriminierung reißt. Die Fragen, ob es sich bei Happy Slapping um ein tatsächlich weit verbreitetes soziales Phänomen oder nur um einen von Medien hochgespielten Hype handelt, ob Terrorist der Karrieretraum aller muslimischen Jugendlichen oder nur eine politische gezüchtete Phobie westlicher Fundamentalisten ist, sind in diesem Zusammenhang weitgehend irrelevant. Das Bedürfnis die Normalität zu verletzen, um am heroisch stilisierten Exhibitionismus des Gesehenwerdens Teil zu haben, ist Produkt eines medialen Rückkopplungsprozesses, der Bilder und Seher wechselseitig erfindet. Genau diese Unschärferelation nutzt ein Handeln, das über Bilder virale Identitätsprojekte lanciert. Bilder wirken ansteckend, weil sie Versprechungen transportieren und Subjekte infizieren: Gelingt es sich selbst zum Bild zu stilisieren, wird man zum Vorbild für die Identität eines zum Selbstbild gewordenen Fremdbildes. Das Identische liegt in der Verheißung einer kongruenten Beschreibung von Welt durch Ausblendung „bildstörender“ Komplexitäten, Ungereimtheiten, Widersprüchen und Kontingenz. Der „Videoeffekt“ medialer Bilder liegt folglich im Vorbild- und Nachbildeffekt gleichermaßen, den aufmerksamkeitshungrige Subjekte für ein Affekt-Marketing nutzen. Die „Eroberung der Welt als Bild“ ist an die Produktion von Subjekten gebunden, wie bereits Heidegger wusste. „Daß die Welt zum Bild wird, ist ein und derselbe Vorgang mit dem, daß der Mensch innerhalb des Seienden zum Subjectum wird.“[5] Der Mensch wird metaphysisch zum Subjekt, indem er sich zur „Bezugsmitte des Seienden als solchen“ erklärt. „Indem aber der Mensch dergestalt sich ins Bild setzt, setzt er sich selbst in die Szene, d.h. in den offenen Umkreis des allgemeinen und öffentlichen Vorgestellten. Damit setzt sich der Mensch selbst als die Szene, in der das Seiende fortan sich vor-stellen, präsentieren, d.h. Bild sein muß.“[6] Was Heidegger in der Verschränkung von Bildwerdung mit Subjektwerdung als neuzeitliches Symptom des Humanismus diagnostizierte, erweist sich in den Slapping-Zonen als janusköpfige Doppelstruktur, denn die Frage, unter welchen „Subjectum“ die Organisation von Psyche und Gesellschaft sich heute formiert, stellt sich weniger metaphysisch als „metamedial“. Setzen wir uns in den Slapping-Zonen ins Bild, um emanzipatorisch und gegenkulturell eigene Bedürfnisse zu artikulieren, lassen wir uns als „Agenten des Spektakels“ ins Bild setzen oder entziehen wir uns dem Blick und konterkarieren Präsenz durch Absenz? Ein Ausstieg aus den Zapping- und Slapping-Zonen scheint unmöglich, da Medien wie Kapitalismus und Globalisierung keine Außengrenze kennen. Dem zyklopischen Auge der Medien entgehen zu wollen, wäre wie die Atmosphäre verlassen zu wollen. Die Utopie ist selbst zur Utopie geworden und der Wunsch, eine Alternative zu leben, ist Illusion, da niemand verschwinden kann, ohne entweder suspekt zu werden oder zu ersticken. Der entfesselte Blick der Systeme produziert einen das Subjekt fesselnden Blick, der dieses gefangen hält und entweder instrumentalisiert oder paralysiert. Im Gegensatz zu Odysseus, der dem Zyklopen einen falschen Namen nannte und sagte, „ich bin Niemand“, ist heute ein Verlassen der zyklopischen Zonen, eine Enthaltsamkeit gegenüber neoliberalen Selbstoptimierungen und konsumistischen Subjektstilisierungen nicht möglich, ohne Karriere und sozialen Erfolg aufs Spiel zu setzen. Ein Leben in den Randzonen, in den Wäldern oder auf einsamen Inseln entkommt nicht den medialen Blicken, die einem - wenn nicht panoptisch, dann psychisch - im Nacken sitzen. Odysseus konnte das Zyklopenauge ausstechen und unerkannt entkommen, da die zu Hilfe geeilten Brüder auf die Frage, wer dies getan habe, Niemand zur Antwort bekamen. Aber was, wenn die Augen wie die Köpfe der Hydra nachwachsen und einen gierig umschlingen und durchbohren? Modern StalkingVideokameras sind zum integralen Bestandteil heutiger Medienkultur geworden, die Bilder in Systemen und Netzen des Fernsehens, des Internet und der Überwachung speichern und verbreiten. Video verändert sich im Verbund vernetzter Technologien und geht über die Aufnahme von Bildfolgen weit hinaus, sobald audiovisuelle Informationen in Computersystemen automatisiert ausgewertet, gefiltert und mit weiteren Daten verknüpft werden, wie dies etwa „The Informedia Project - automated digital video understanding research“[7] an der Carnegie Mellon Universität erforscht. Da digitale Videoströme nicht durch Speicher beziehungsweise die Bandlänge beschränkt sind und sich nahezu unbegrenzt auf Servern ergießen können, entsteht – umgekehrt der Präsenz der Bilder in Massenmedien - eine Latenz des Bildes. In Überwachungssystemen werden Bilder selbsttätig aufgenommen, gespeichert, verarbeitet und gelöscht. Auch im privaten Gebrauch nimmt diese Latenz zu, immer häufiger werden Bilder festgehalten, ohne jemals betrachtet zu werden. Selbst Kunstausstellungen unterliegen diesem Gesetz der Latenz, wenn die Länge der Videoarbeiten in Summe die Ausstellungsdauer übertrifft. Die von Steven Spielberg initiierte Shoa Foundation versammelt beispielsweise Videointerviews mit Überlebenden des Holocaust, für deren Ansicht ein Mensch 40 Jahre benötigen würde. Video wird zu einem Informationsraum, in dem Bilder von Live-Kameras oder gespeichert auf Festplatten menschliche Sinneskapazitäten überfordern. Sobald sich digitale Bildströme im herkömmlichen Sinne nicht sichten, schneiden oder montieren lassen, wird Video als Live-Medium zu einer Frage der Schnittstelle und als Archiv-Medium zum Gegenstand eines effizienten Data Mining. Das Finden, Sortieren und Kontextualisieren von Bildinformationen erfordert neben Verfahren der Mustererkennung eine semantische Beschreibung der Daten durch strukturierte Medienformate. Wie einst in den Kunstwissenschaften werden ikonographische und ikonologische Methoden zur Analyse und Interpretation elektronischer Bilder gesucht, um ein Extrahieren benötigter Informationen aus großen Datenmengen zu bewerkstelligen. Datenanalyse nähert sich der dreistufigen ikonographisch-ikonologischen Methode eines Erwin Panofsky an, doch im Unterschied sollen Software-Agenten und nicht Kunsthistoriker die Arbeit vollrichten.[8] Das von Panofsky am Beispiel der Renaissance beschriebene Modell lässt sich nicht alleine auf Kunstwerke wie Benvenuto Cellinis Saliera anwenden, sondern auch auf den Dieb, der das Objekt aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien entwendet hat: Als dieser mit einem Wertkartenhandy im Jänner 2006 seine Rückgabeforderungen kundtat, wurde sein von einer Videoüberwachungskamera im Handy-Geschäft aufgenommenes Bild als Fahndungsfoto ausgeschrieben. Dass es sich beim Dieb um einen Sicherheitsexperten handelte, der nach eigenen Angaben die mangelnden Alarmvorrichtungen des Museums aufzeigen wollte, ist die Ironie der Geschichte. Die Moral der Geschichte ist, dass Bilder in Museen schlummern mögen, Bilder in elektronischen Netzwerken dagegen immer aufmerksamer und aggressiver werden. Der so genannte Cellspace von Mobilfunknetzen überlagert zunehmend größere Bereiche, die das Bezahlen von Waren und Dienstleistungen, das Einchecken an Flughäfen oder die Abfrage von Positionsbestimmungen ermöglichen. In Verknüpfung mit Datenbanken und Ortungssystemen wie GPS oder in naher Zukunft Galileo werden Cellspace-Geräte zu mächtigen Technologien, die ökonomisch weiter vordringen und sich mit vielfältigen Lebensaspekten verfilzen. Da die Telekommunikationsindustrie ihre Gewinne in neuen Handy- und PDA-Generationen für Multimedia-, E-Commerce und drahtlose Standort-Dienste sieht, wird sich dieser Bereich rasant entwickeln. In enger Wechselwirkung zwischen Unterstützung und Überwachung tritt ein universelles Tracking des Nutzers, seiner Bewegungen und Einstellungen in Erscheinung. Datenverarbeitende Netze und ihre Sensoren nehmen nicht nur punktuell und sporadisch Messungen vor, sondern alle Punkte im System streben einer permanent abgleichenden Kontrolle zu, die ein universelles Monitoring des Konsumenten und Bürgers, seiner Arbeitsmoral, Launen oder Aufmerksamkeitspotentiale anvisiert. Telefonate, E-Mails, Zahlungen mit Kreditkarten, Cookies in Browserprogrammen etc. verzeichnen Spuren sozialer Interaktionen. Sämtliche Tätigkeiten innerhalb eines digital immer enger gewobenen Netzes generieren Daten, die für jeden Verbraucher ein Archiv seiner Gewohnheiten anlegen. Die Einzelperspektiven bilden in Summe den Input für einen demographischen Blick elektronisch vernetzter Systeme. Projekte wie „MyLifeBits“ von Gordon Bell oder das inzwischen gestoppte „LifeLog“ der Defense Advanced Projects Agency (DARPA) stellen demo- beziehungsweise „egographische“ Pilotversuche dar, die weit über amtliche und geschäftliche Vermerke hinausgehen. Umfassende Protokolle menschlichen Verhaltens werden über Videokameras, GPS-Daten und biomedizinische Sensoren angelegt und erreichen nahezu alle Aspekte des Lebens. Die von der DARPA angestrebte „Total Information Awareness“ rückt in Zeiten des „Patriot Act“ bedenklich nahe an Szenarien, wie sie im Film „Minority Report“ zum Albtraum werden. Die „Egographie“ des Bürgers verdichtet sich zu einem psychogrammatischen Muster, über das zukünftiges Handeln des Individuums interpoliert werden kann und so gleichzeitig der Verbrechensprävention von Einzeltätern als auch in Interferenz der einzelnen Muster untereinander der Prognose makroskopischer Entwicklungen ganzer Gesellschaften dient. Alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse und Handlungen sind in diesem Stadium vorhersagbar und im Simulationsmodus des Computers berechenbar. Der Dämon der „Sozialen Physik“ eines Adolphe Quêtelet erwacht in den elektronischen Netzen zu neuem Leben, um in Anlehnung an den Laplaceschen Dämon den „l’homme moyen“, den berechenbaren Durchschnittsmenschen zu determinieren. Während der Astronom und Mathematiker Laplace von der Vorstellung ausging, dass ein physikalischer Dämon Lage, Position und Geschwindigkeit aller im Kosmos vorhandenen Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt messen müsste, um jeden vergangenen und zukünftigen Zustand bestimmen zu können, ging Quêtelet in seiner „mécanique sociale“ von menschlichen Teilchen aus. In der 1835 erschienen „Physique Sociale“ beschreibt Quêtelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens: „Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahieren und dürfen ihn nur mehr als einen Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir all das, was nur zufällig ist; die individuellen Besonderheiten, die wenig oder keinen Einfluß auf die Masse haben, verschwinden dann von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen.“[9] Dies bringt ihn zum Schluss: „Mit den moralischen Fähigkeiten steht es (...) ungefähr ebenso wie mit den physischen, und man kann sie unter der Voraussetzung schätzen, daß sie im Verhältnis zu ihren Wirkungen stehen.“[10] Begann mit Quêtelet die Sozialstatistik Karten gesellschaftlicher Auffälligkeiten zu zeichnen, um sozialpolitische Strategien für die Zukunft abzulesen, registrieren elektronische Systeme das menschliche Verhalten zunehmend individuell und in Echtzeit. Geschäftsstrategien und parteipolitische Öffentlichkeitsarbeit beginnen sich für die Möglichkeiten digitaler Demographie zu interessieren, um Trends und Meinungen bereits vor ihrem Entstehen abschätzen und beeinflussen zu können. Der Status der Bilder wandelt sich auch auf dieser Ebene, denn aus der Verknüpfung von Bilddaten mit Sub- und Metadaten kommt ein digitaler Dämon ins Spiel, der eine bisher unbekannte Brisanz optischer Information entstehen lässt. Über Mobiltelefone stellt sich eine Omnipräsenz von Kameras ein, die Video in ein neues Stadium überführt. Begonnen mit Fernsehen als Live-Medium, ergänzt durch Magnetaufzeichnung seit den 1950er Jahren, verkleinert und mobilisiert in Form von Portapack-Modellen von den 1960er Jahren bis zu den digitalen Camcordern der 1990er Jahren, erreicht Video derzeit als Zusatzfunktion von Handys eine gesellschaftliche Durchdringung, die zumindest in der industriell-elektronisierten Welt beinahe jedes menschliche Auge einer technischen Doublierung unterzieht. Es wäre zwar naiv zu erwarten, dass das anarchische Potential einer ständig am Körper getragenen Kamera die Hegemonie medialer Monopole brechen und subjektive Bilder den Stereotypisierungen entgegensetzen könnte, aber Video als demokratiepolitisches Instrument kann die Blickachse der Überwachung und Kontrolle kreuzen. Wenn es überall Videoaugen gibt, dann auch in den Händen von Einzelpersonen und nicht nur systemisch als Teil von Apparaten, Konzernen und Staaten. Menschen werden nicht nur panoptisch beobachtet, sie können ihre Blicke selbst wählen, verwalten und über deren Vermittlung entscheiden. In der Mapping-ZoneIdentität und Raum teilen seit Entstehung modernistischer Zapping-Zonen gegen Ende des 19. Jahrhunderts dasselbe Schicksal: sie verlieren Konsistenz proportional ihrer Zunahme an Kontingenz. Traditionelle Konstruktionsmuster von Raum und Identität geraten in die Krise, da Erfahrung und Organisation von Wahrnehmung immer weniger auf eine euklidische Geometrie und eine kontinuierliche Entwicklung einheitlicher Lebensmodelle zurückgreifen können. Die Vorstellung von Raum und Identität als unveränderliche Größen mit festen Standpunkten und homogener Ausdehnung bricht und erfährt nach einem halben Jahrtausend perspektivischer Seh- und Kunstgeschichte ihre Korrektur. Seitdem herrschen relativistische und topologische und nicht absolutistische und topografische Raum- und Identitätsbilder in Kunst und Alltagserfahrung. Der Blick bewegt sich in der mediatisierten Wirklichkeit in einer Vielfalt gegenseitig sich durchdringender und überlagernder Räume. Die dualistischen Trennungen zwischen Raum und Körper, Medium und Subjekt heben sich auf und vermengen sich im driftenden Verhältnis der Modalitäten und Bezugspunkte. Systeme und Subjekte operieren weiterhin in Raum und Zeit, ihre Grenzen beruhen jedoch weit stärker auf der Leistungsfähigkeit von Medien als auf Geografie und Territorialität. Die Bildung von Raum setzt soziale, ökonomische und technische Konstruktionsleistungen voraus, die das bei Kant definierte „formgebende Prinzip“ von Raum vorantreiben und invertieren, indem Technologien zum „raumgebenden Prinzip“ werden. Wurden zivilisatorische Räume bisher kulturell aus Natur geformt, werden elektronische Räume künstlich gesetzt und durch ihren Gebrauch geprägt. Das englische „spacing“ im Gegensatz zum deutschen „räumen“ verdeutlicht dies, da anstatt Dinge aufgeräumt oder Orte eingeräumt werden, etwas positioniert wird, was Raum hervorbringt. Dies klärt das Verhältnis zwischen materiellen und virtuellen Räumen: Jede Architektur, Straße etc. vernichtet Naturraum, um Lebens- und Kulturraum zu schaffen; jedes Objekt im Virtuellen erzeugt dagegen neuen Raum, der zuvor nicht vorhanden war. Die Konstitution von Raum und in Folge auch Identität erweist sich als ein sozialer und technischer Prozess, in dem Handeln seine raumbildende und identitätsbildende Wirkung entfaltet. Findet das Leben in unterschiedlichen Räumen statt, steigt der Bedarf an verkehrs- und kommunikationstechnischen Verbindungen, um verinselte Räume zu synthetisieren. Synthetische Räume konstruieren sich medial über Netzwerke, die weitgehend unabhängig von geographischen Parametern lokale und globale Aspekte verschieben und zwischen Städten wie New York, London oder Shanghai die digitalen Formationen des geschäftlichen und gesellschaftlichen Lebens – zumindest für eine höhere Bildungs- und Einkommensschicht - in den Vordergrund rücken.[11] Transformiert Raum von einem starren Behältnis zu einem Fluss aus Informations-, Waren- und Geldströmen, gewinnen Verflechtungen, Bewegungen und dynamischen Ordnungen an Priorität. Wir erleben uns gleichzeitig in verschiedenen Räumen als unterschiedliche Identitäten und empfinden dies sowohl als Bedrohung als auch als Lustgewinn. Wenn Diskotheken im Stroboskopgewitter zur Zapping-Zone werden, werden auf gesichertem Terrain Wahrnehmungsstrategien und Performancerituale für eine Wirklichkeit trainiert, in der Homogenität zur Illusion geworden ist. In MUDs, Shopping-Malls, Kinos, Freizeitparks und Computersimulationen erlernen wir spielerisch Verhalten und Orientierung in inszenierten Räumen als Vorbereitung für Alltags- und Arbeitsszenarien, in denen die Unterscheidung zwischen Nähe und Ferne, dem Realen und Imaginären ihren kulturell eingeübten Sinn verliert. Die Vernetzung und Interferenz von realen und virtuellen Räumen schafft eine „Erweiterte Realität“[12], in der Datenschichten den gesamten physikalischen Raum einerseits mittels Funkwellen (W-LAN, HSDPA etc.), andererseits mittels informierten Oberflächen überlagern. Der Raum wird virtuell zu einem Multi-Layer-Environment und urban zur Oberfläche und Textur für Bildschirme, die als Plasma- und Projektionsflächen, LED-Wände, E-ink etc. labyrinthische Zapping-Zonen erzeugen. Die Stadt als Bildschirm und Tastatur rückt über Informationsdisplays näher, wie sie in Seoul oder Tokio schon nahe an die Zukunftsarchitektur in Blade Runner heranreichen. Elektronische Displays an Fassaden formieren für Robert Venturi Kommunikationsarchitekturen, die das Bedürfnis nach Ornament befriedigen und Gebäude zu ihren traditionellen Wurzeln der Informationsoberfläche wie etwa in Tempeln und Kathedralen zurückbringen. Architekturen und ganze Städte werden zu entgrenzten Räumen, die Differenzen zwischen Materialität und Immaterialität sowie den Kategorien Bild, Schrift, Theater und Architektur aufweichen. Ernst Cassierers Beschreibung, dass der moderne Mensch in einem symbolischen statt in einem natürlichen Universum verortet ist, wird zur medialen Alltagserfahrung, in der das Symbolische das Digitale ist. Symbolische Ordnungen kognitiver, sozialer, urbaner und elektronischer Räume unterliegen keiner hermetischen Trennung und mischen sich in einem „Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum“ (Paul Milgram). Räume werden zu Möbius-Architekturen, in denen das Verlassen von einer Sphäre und das Eintauchen in eine andere unbemerkt ineinander fließt. Dimensionen und Kategorien „shiften“, indem die Übergänge schwellenlos von realen in virtuelle, aber auch von öffentlichen in private, von geschäftsfreien in kommerzielle Bereiche verlaufen und damit Unterscheidungen zwischen Arbeit und Freizeit, persönlicher Entwicklung und beruflicher Selbstoptimierung, Verantwortung und Vermarktung verwischen. Raum und Identität lösen sich von territorialen Gegebenheiten und vermengen sich zu informationstopologischen Mapping-Zonen, die den Rollenbildern der Subjekte neue Bühnen sozialen Handelns zuweisen und umgekehrt von diesen entworfen und bespielt werden. Resubjektivierungszonen der KunstIn Räumen, die kein Außen und Innen kennen, erfreuen sich Subjektivismen großer Beliebtheit und sind Ausdruck des Verlangens aus ihnen herauszutreten. Der Individualismus wird zum Konformismus einer angepassten Suche nach Identität. Die Konjunktur des Individuellen kompensiert die Krise des Subjekts, das durch flutende Bilder epidemisch infiziert und konsumistisch standardisiert wird. Audiovisuelle Codes und der Habitus des Kreativen, die aus Bereichen der Kunst stammen und Originalität und Unverwechselbarkeit versprechen, breiten sich virulent aus und bestimmen Dekor und Ambiente der Styling-Zonen. Wenn alles zur „Kunst“ wird, verliert diese ihre systemische Differenzfunktion, wodurch ein Übermaß an ästhetischen Atmosphären und ein Mangel an ästhetischem Bewusstsein sich nicht ausschließen. Während ästhetische Belange einerseits eine zentrale Stellung im Alltag einnehmen und uns gegenwärtig wie wahrscheinlich in keiner Kultur zuvor einhüllen, nimmt andererseits Kunst eine marginale Bedeutung ein. Die Rolle der Kunst als Katalysator kultureller Welt- und Selbstbilder verhält sich disproportional einer Aufmerksamkeitsökonomie, die auf Branding, Redundanz, und Wiedererkennungsfaktoren setzt und Opportunismus, Egoismus und Kopismus mit Subjektivismus verwechselt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Kunst eigene Methodiken verfolgt und kunstfremde Gebiete internalisiert, um sie unter eigenen Bedingungen zu gestalten. Kunst übernimmt etwa Bereiche des Journalismus und des Dokumentarischen, der Wissenschaften und Politik, prüft kollektive Bilder und experimentiert an neuen Schnittstellen für den Umgang und die Nutzung medialer Räume, weil im Spektrum einer disziplinär ausdifferenzierten und massenmedial rehomogenisierten Gesellschaft zusehends weniger Freiräume verbleiben. Die Zustände von Bild und Subjekt sowie deren Komplizenschaft werden zum zentralen Anliegen einer Kunst, die nach den systemischen Lebensbedingungen und subjektiven Befindlichkeiten fragt. Resümierend modifiziert sich der Status der Bilder technisch durch die Erweiterung des Ikonischen in Richtung Steuerung und Programmierung virtueller und materieller Umwelten, massenmedial durch die Züchtung redundanter Bildreservoire zur Stabilisierung sozialer Schnittmengen, politisch und ökonomisch durch die biometrische und demographische Verknüpfung mit Sub- und Metadaten und psycho-sozial durch die Synthetisierung separierter Räume und Identitäten beziehungsweise durch die Überlagerung des Realen mit dem Virtuellen im Techno-Imaginären. Daraus leiten sich die Parameter für eine Kunst ab, die sich neben der traditionellen Aufgabe der Bildproduktion die Analyse und Interpretation von Bildern zur Aufgabe macht. Bereits mit Etablierung der Fotografie verlor bildende Kunst im 19. Jahrhundert ihr kulturelles Monopol der Herstellung visueller Güter. Die Entbindung von Darstellungs- und Abbildungspflichten schuf neue Freiheiten, aber auch veränderte Anforderungen. Neben immanenten Untersuchungen künstlerischer Materialitäten und Medien wird die Frage nach den Funktionszusammenhängen, Produktionsverhältnissen und Operationsweisen von Bildern akut. Im Wesentlichen sind gegenwärtig fünf künstlerische Methoden anzutreffen, die sich der Artikulation subjektiver Befindlichkeiten, der Vernetzung des Faktischen mit dem Fiktiven (und umgekehrt), der Arbeit am kollektiven Bildergedächtnis, dem Hang zum Dokumentarischen und der experimentellen Auslotung neuer Technologien verschrieben haben. Bemerkenswert erscheint an diesen Methoden, dass sie sich in der Praxis der Kunst durchlässig erweisen und sich untereinander befruchten: Das experimentelle Interesse an neuen Technologien begegnet subjektiven Sehnsüchten und Ängsten, die Einblendung des Dokumentarischen taucht sowohl in narrativen Arbeiten als auch in den Auseinandersetzungen mit kollektiven Bildern auf und wird wiederum mit subjektiven Gefühlen und Wahrnehmungen konfrontiert. Zeitgenössische Kunst reagiert methodisch auf gesellschaftliche Komplexitäten und Unbestimmtheiten, die nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden dürfen und setzt heute stärker denn je Genauigkeit und Vielschichtigkeit in der künstlerischen Produktion sowie in der Rezeption des Betrachters voraus, um die Codierungen der Wirklichkeit in Kunst zu verdichten und zu lesen. Während das Subjektive als seismographischer „Seelenzustand“ des Künstlers spätestens seit der Romantik einen festen Platz in der Kunst einnimmt, beginnen subjektive Blicke massenmediale Bildwelten verstärkt seit Etablierung eines globalisierten Blicks durch Bildjournalismus, Fernsehen und Werbung zu reflektieren. Das Zitieren kollektiv konsumierter Bilder, das in der Pop-Art seine erste breite Anerkennung fand und selbst Teil medialer Rückkopplungsprozesse wurde, diversifiziert sich heute über die Frage nach gesellschaftsprägenden Setzungen ästhetischer Standards. Die Beschäftigung mit Bildern vernetzt sich mit konzeptuellen Erörterungen, etwa mit modernistischen Utopien, ihren Scheitern in der postkommunistischen Realität und dem Siegeszug der kapitalistischen Ordnung. Das Dokumentarische und des Fiktive schließen sich hier nicht aus, wenn sich das Faktische als fiktional konstituiert erweist oder durch die künstlerische Fiktionalisierung als kontingent aufgezeigt wird. Dadurch stellen sich modellhaft Möglichkeiten ein, „wahre“ und „harte“ Geschichten – sowie die in ihnen verstrickten Bilder und Identitäten -, die sich als Geschichte verleugnen, als eine Geschichte unter anderen wahrzunehmen und ihren Ausgang – die Moral der Geschichte – zu verhandeln. Dogmatisch-fundamentalistische Wirklichkeiten, die jenes mit der erzählten Version ihrer Geschichte Unvereinbare zu invisibilisieren trachten, werden aufgeweicht und als kontingent erfahrbar. Kunst fällt die gesellschaftliche Funktion zu, Wirklichkeit polykontextural zu öffnen und Realität mit anderen Versionen derselben Realität zu vernetzen. Insbesondere wenn Politik ein Übermaß an Demokratie fürchtet und Ökonomie Menschen instrumentalisiert, bedarf es künstlerischer Resubjektivierungsstrategien für gesellschaftliche Kontingenzmodelle, um die Defizite systemischer Prozesse im Individuum zu lokalisieren und zum Ausgangspunkt für selbstdefinierte Lebenskonzepte umzugestalten. Kunst operiert hier an den Grenzen des gesellschaftlich Notwendigen, um ins Mögliche aufzubrechen. Aus diesem Nichts – dem eigentlichen Ort der Kunst - entsteht eine Doppelbewegung, die einerseits das Bestehende ins Mögliche überzuführen und andererseits die Möglichkeit vor der Realisierung im vermeintlich Notwendigen zu retten versucht. Im Bewusstsein der Kunst, dass alles einschließlich ihrer selbst auch ganz anders sein könnte, bilden sich aus den Resubjektivierungen Singularitäten, die abseits von Selbststilisierung und Selbstoptimierung für die Gemeinschaft einer möglichen Zukunft eintreten. [1] Die Kapitelüberschrift zitiert den Titel einer Ausstellung, eines Symposions und Buches von Gerhard Johann Lischka: G.J. Lischka (Hg.), Der entfesselte Blick, Bern 1993. [2] Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Holzwege, Frankfurt a. Main 2003, S. 94. [3] Uwe Pörsken, Weltmarkt der Bilder. Eine Philosophie der Visiotype, Stuttgart 1997, S. 140. [4] Vgl. Peter Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, Hamburg 2005. [5] Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Holzwege, Frankfurt a. Main 2003, S. 92. [6] Ebenda, S. 91. [7] Vgl. http://www.informedia.cs.cmu.edu/ [8] Die „vor-ikonographische Beschreibung (und pseudoformale Analyse)“ übernimmt eine Mustererkennungssoftware, die das „primäre Sujet“ durch Auswertung von Linien und Formen erfasst und feststellt, dass es sich bei dem Bild beispielsweise um ein Gesicht handelt; ein statistisches oder ein Fuzzy-Clustering-Verfahren widmet sich der „ikonographischen Analyse“, indem es dem Gesicht einen Namen und eine amtliche Identität zuordnet; auf der dritten Stufe erfolgt die „ikonologische Interpretation“, die auf die „eigentliche Bedeutung“ zielt und wo etwa über soziale Auffälligkeiten, persönliche Vorlieben und Konsumgewohnheiten auf den Charakter geschlossen wird.Vgl. Erwin Panofsky, „Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance“, in: Ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978, S. 36 – 67. [9] Adolphe Quêtelet, Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, Jena 1914, S. 103. [10] Ebenda, S. 141. [11] Vgl. Robert Latham, Saskia Sassen, „Digital Formations: Constructing an Object of Study“, in: Robert Latham, Saskia Sassen (Hg.), Digital Formations. IT and New Architectures in the Global Realm, Princeton 2005, S. 1 - 33. [12] Der Begriff Erweiterte Realität (ER), englisch Augmented Reality (AR) oder Mixed Reality beschreibt die computergestützte Überlagerung bzw. Erweiterung der Realität mit virtueller (meist visueller) Information in Echtzeit. Im Textzusammenhang wird der Begriff sowohl auf konkrete technische Applikationen als auch metaphorisch in Bezug auf räumliche und kulturelle Überlagerungen angewandt. |