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Ludwig Seyfarth
RealData Stampede - Realdatenkonzert für Massenmedien und Computer

Das am 24.9.1994 in Innsbruck erstmals aufgeführte Realdatenkonzert ist eine multimediale Inszenierung von Live-Bildern und Live-Klängen, die über Satellitenantennen, terrestrische Antennen und Telefonleitung empfangen werden. Allein das technische Setting und die in Echtzeit ablaufende Verarbeitung des Ton- und Bildmaterials unterscheidet sich grundlegend sowohl von den historischen Mixed Media-Performances der sechziger Jahre mit ihren psychedelischen Klängen und Projektionen als auch von dem, was immer noch landläufig als digitales Multimedia angeboten wird: Texte, gesampelte Stand- oder Bewegtbilder sowie Sprechtexte und Begleitmusiken zu diversen Themen (elektronische ,,Bücher", die aus ,,Archivmaterial" bestehen). ,,Rohmaterial" von RealData Stampede ist ausschließlich der aktuell laufende Datenfluß der Radio- und Fernsehsender, der Nachrichtenagenturen sowie der Mailbox des Weißen Hauses. Das ,,Datenmaterial" für RealData Stampede speist sich aus fünf Kategorien, welche programmatisch und soziologisch den fünf repräsentativen Themenfeldern der Massenmedien entsprechen: Politik/Wirtschaft, Werbung/Corporate Identity, Spiel/Sport, Unterhaltung/Lifestyle, Wissenschaft/Bildung. Auf insgesamt etwa zwei Dutzend Monitoren laufen ständig wechselnde TV-Programme, die über drei verschiedene Satelliten empfangen werden. Zusammen mit etwa ebenso vielen Radioempfängern stellen sie eine Art Armaturenbrett der Medien dar, auf dem die verschiedenen Programme von Künstlern in der Funktion von ,,Navigatoren" überwacht werden. Die Künstler gleichen dabei Fluglotsen, die in den medialen Räumen Daten orten, die sich für eine Weiterverarbeitung, ein Sampling in Echtzeit eignen. Diese selektionierten Daten werden von den Navigatoren mit Hilfe von Computern performiert. Auf der Tonebene zerhackt ein von einem Computer gesteuerter Niche-Mixer Radiokanäle in Struktur und Rhythmus von vorprogrammierten, aber individuell modifizierbaren Soundmodulen. Dazu interferieren Baßrhythmen, die über Transformierung stakkatoartiger Kurzwellen-Störfrequenzen in MIDI-Daten einen Drumcomputer steuern. Ein Speechgenerator erzeugt zusätzlich noch einen Sprechgesang, der aus Meldungen der Mailbox des Weißen Hauses besteht. Auf der Bildebene, die parallel zur Tonebene läuft, werden per Blueboxverfahren Bilder aus den Fernsehprogrammen in Computeranimationen interpoliert, die thematisch die fünf Kategorien behandeln. Zusätzliche Inserts und Jingles gliedern den Ablauf von RealData Stampede und trennen chronologisch die fünf Kategorien. Jede dieser fünf Kategorien wird über einen eigenen Jingle eingeführt: Platonische Körper umkreisen die Weltkugel und symbolisieren je einen Datenbereich, der sich vergleichbar einer Wolke um die Erde zieht und eine Atmosphäre bildet. Die visuelle Ebene des Konzerts entspricht also einer orbitalen Perspektive, einem Blick aufs Ganze. Das Bild der Welt symbolisiert die Summe der Realdaten als globales Netzwerk.

Akustische Daten - Das Rauschen im Konzertsaal

Was sind eigentlich Realdaten? Vielleicht so etwas ähnliches wie ,,Fakten" oder ,,Tatsachen" - Elemente, die aus der Fülle an Dingen und Ereignissen herausgelöst werden und einen eigenen Status erhalten: Nur was Fakt ist, ist real - unter elektronischen Bedingungen sind nur digitale Daten real... Daten sind aber nicht per se real, sondern sind ein Potential, das realisiert werden muß. Die ,,Daten" einer musikalischen Partitur müssen gespielt, aufgeführt werden, damit sie Musik werden. Nicht alles an der Aufführung läßt sich durch die Partitur festlegen, doch sind die Noten in der Regel so ausgewählt, daß bei einigermaßen angemessener Realisation ,,Musik" erklingt und nicht ,,Geräusch".

,,Musik" ist eine akustische Datenmenge, aus der die UNmusikalischen Daten, die bloß Geräusch sind, herausgefiltert werden. Dieser Filterungsprozeß, der auch sozial konditioniert ist, fand immer schon statt: Wenn an einem barocken Hof Tafelmusik erklang, wußte man wohl üblicherweise zwischen dem zur Musik gehörenden Klang der Instrumente und dem Klappern der Bestecke, den Eß- und Trinkgeräuschen und dem Geräuschpegel der Tischgespräche zu unterscheiden: Verschiedene ,,Lautsphären" (der Begriff ,,soundsphere" wurde von dem kanadischen Musikwissenschaftler Murray Schafer geprägt) fanden parallel statt, aber nur eine von ihnen war ,,Musik", also wirklich KLANG und nicht GERÄUSCH.

Daß der musikalische Klang aus einer weitaus größeren akustischen Datenmenge herausgefiltert werden muß, ist also ein altes, oft unbewußt bleibendes Phänomen - die erzwungene Ruhe des Konzertsaals gehört ohnehin zu den historisch jüngeren Errungenschaften.

Aufgezeichneter Klang

Das volle Bewußtsein der akustischen Filterprozesse entstand hingegen wohl erst mit der Möglichkeit der Tonaufzeichnung, die schlagartig deutlich machte, daß ,,zufälliges" Rauschen ein primäreres akustisches Ereignis ist, als Beispiel die wiedererkennbare Stimme von Enrico Caruso.

Seit Töne aufgezeichnet werden, gibt es auch einen Rückkoppelungsprozeß auf die traditionell notierte Musik. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb der amerikanische Komponist Charles Ives sinfonische Werke, die den Geräuschpegel dreier gleichzeitig spielender Militärkapellen durch ein Orchester imitieren lassen.

Symbolische und reale Realklänge

Ives sah ,,Realdaten" vor, aber er komponierte sie als Bestandteile für eine bewußte Aufführung. Einen entscheidenden Schritt weiter ging da John Cage 1952 mit seinem Klavierstück 4:33, bei dem nicht das Klavier erklang, sondern der durch die geöffneten Fenster in den Konzertsaal dringende Geräuschpegel. Cage hat das erste Mal darauf verzichtet, die musikalischen Klangdaten einer ,,zensurierenden" Vorauswahl zu unterwerfen. Bei einem von ihm Ende der 80er Jahre veranstalteten Freiluftkonzert in Berlin durften alle Leute spielen wie sie wollten. Auf die Frage, ob er das ganze nicht selektieren und strukturieren wolle, antwortete Cage schlicht: ,,No".

Das ,,Öffnen" des geschlossenen Konzertsaals bedeutet in der Konsequenz die Aufhebung eines jeglichen Sonderstatus für musikalische Daten: Alles, was erklingt, kann Gegenstand einer Aufmerksamkeit werden, die selbst entscheidet, worauf sie sich richtet. Cage hatte bekanntlich eine Abneigung gegen alles Expressive, das Aufmerksamkeit erzwingt.

Gesendete Klangdaten

Eine zwanglose Stimulanz der akustischen Aufmerksamkeit sind auch die Klangskulpturen von Bill Fontana. ,,River Soundings", 1989 im Postmuseum Frankfurt realisiert, verbindet verschiedene ,,Geräuschorte", und zwar ,,exemplarische Beispiele für die verschiedenen Situationen und geographischen Punkte an deutschen Flüssen. Die Klangskulptur verwendet vier Hauptkategorien von Geräuschen: Durch Hydrofone aufgefangene Unterwassergeräusche von Wasserbewegungen, Schiffsmaschinen und Schleusen; an einer Wasserstraße liegende Stadtgebiete; an einer Wasserstraße liegende Naturgebiete und an einer Wasserstraße liegende historische Städte."1

Wenngleich Fontana die Klänge für seine ,,Skulptur" über elektronische Übertragungswege der Post ,,senden" läßt, also mit medialen Klängen arbeitet, stammen die Ausgangsklangdaten aus herkömmlichen, ,,natürlichen" Umwelten. Durch die Übertragung ergibt sich eine Überlagerung natürlicher Lautsphären, die sozusagen miteinander telefonieren. Die mediale Erzeugung ,,natürlicher" Sphären, eines natürlichen Datenflusses hat ihre visuelle Parallele im Evozieren von Naturrhythmen durch Video oder digitale Bilder, z. B. in den Wasserinstallationen Fabrizio Plessis.

Datenflut - Datenreduktion

Die Lautsphäre der Gegenwart besteht zum großen Teil aus medialen Daten, die nicht so leicht zu medialen Landschaftsbildern zu formen sind. Zu der Summe gesendeter akustischer Daten gibt es immer noch unzählige potentiell erklingende. Die Datenmenge, die an einem technisch gut ausgerüsteten Ort heutzutage erklingen könnte, ist um ein Vielfaches höher als die, die es aktuell kann. Dieser Überfütterung läßt sich einerseits mit Reduktion begegnen, wie Cage und Fontana zeigen, oder mit Parallelisierung und Interferierung, wie RealData Stampede vorführt. Die Modellsituationen Konzertsaal (Cage, 4:33) und natürliche Lautsphäre (Fontana) werden verändert, um akustische Aufmerksamkeit zu erzielen, wo sie normalerweise nicht erfolgt. Hingewiesen wird auf das, was einem normalerweise entgeht. Der intendierte Idealzustand ist Ruhe und Stille (ein wichtiges Stück von Cage heißt ,,Silence"). Der DatenÜBERfluß der Medien wird hier negiert, unterwandert - die Auswahl der relevanten Klangdaten beruht auf einer Reduktion bis zur fast völligen Auslöschung, auf einer Minimierung des Rauschens, so daß zutage tritt, was leiser und schwächer ist als die normale akustische Umwelt.

Konzertsaal - Recycling

Der Musikbetrieb bleibt von solchen Infragestellungen des Konzertereignisses jedoch immer noch weitgehend unbehelligt. Der meistaufgeführte ,,E"-Komponist unserer Zeit ist nicht Cage, sondern der in Hamburg lebende, aus Rußland stammende Alfred Schnittke. Im Unterschied zu Cage oder den anderen genannten Künstlern und Komponisten benutzt Schnittke das Klangmaterial zwar auch wie medial gesendete Daten; seine Collagetechnik fügt in einer Art Recycling der Musikgeschichte Barock- oder Jazzklänge jedoch zu traditionellen, aufführbaren Formen wie Sinfonie, Instrumentalkonzert, Oper zusammen, gießt sozusagen - in Umkehrung der Redewendung - neuen Wein in alte Schläuche. Diese Schläuche, die kompositorischen und auch die sozialen ,,Frames" des Musikbetriebs, bleiben erhalten.

Dies soll gar keine Kritik an Schnittke sein, dessen Musiksprache sich in der Sowjetunion unter ganz anderen als westlichen Umständen entwickelt hat. Aber Schnittke vermittelt westlichen Hörern zeitgenössischer E-Musik einen sonst meist vermißten Wiedererkennungswert, der wohl auch als medientechnischer Rückstand zu werten ist. Schnittke berichtet selbst2, daß er bei der Komposition seiner ,,Passacaglia für großes Orchester" (1979/80) in Moskau kein elektronisches Studio zur Verfügung hatte. Da es ihm auch nicht möglich war, zum Studio seines Auftraggebers Südwestfunk Baden-Baden zu kommen, mußte ein Meeressturm, der als Tonbandeinspielung vorgesehen war, durch Schlagzeugeinsatz imitiert werden.

Ein Realdatenkonzert wäre auch 1995 in Moskau kaum aufführbar. Abgesehen von den finanziellen und praktischen Problemen, gibt es in den osteuropäischen Ländern noch nicht die langfristige Vertrautheit der Bevölkerung mit dem Überangebot der Massenmedien - eine für das RealData Stampede unhintergehbare ,,Natur".

Disco ohne Klangarchiv

RealData Stampede folgt dabei einer anderen Strategie als die erwähnten künstlerischen Projekte: Hervorhebung nicht durch Ausblenden, Ausschalten störender Geräuschpegel, sondern ein bewußtes Aufeinanderprallen von Bildern und Klängen. Die Besucher des Konzerts sind weniger ,,Hörer" als ,,Bewohner", die in einer Umwelt leben. Die Ausgangssituation von RealData Stampede ist dementsprechend auch weder eine Zuhör-Situation wie im Konzertsaal noch eine Reduzierung von Daten zur Verringerung der Aufmerksamkeitsschwelle.

Die Modellsituation, die ,,geöffnet" wird wie der Konzertsaal durch Cage, ist die Hip Hop-, Rap- und Techno-Disco. Das hier übliche ständige Recyclen, Samplen, Mischen vorhandener Musiken und digital erzeugter Klangkonstellationen wird hier jedoch nicht als Öffnung, sondern als Erzeugen eines geschlossenen Systems begriffen, das sich - wie die gesellschaftlichen Subsysteme bei Niklas Luhmann - immer aus den Elementen neu generiert, aus denen es besteht. Das ,,Archiv", aus dem gesampelt und recycled wird, ist nur keines, sondern ein ,,Echtzeit"-Datenfluß, der durch die Setzung der Parameter in der Computersteuerung die ,,Vorschrift" einer Partitur oder eines Drehbuchs in die zeitliche Simultanebene bringt. Die Künstler treten nicht als Akteure auf, sondern - wie sie selbst sagen: ,,Performerteams überwachen die ihnen jeweils zugedachten Datenräume, ähnlich Fluglotsen, die einen ihnen zugeteilten Luftraum kontrollieren." Die spezifischen Realisationen sind dann die Elemente oder ,,Formen", die sich als ,,patterns" spontan aus dem Fluß der Ereignisse herausbilden.

Visuelle und auditive Datenräume

Der Raum der Performance ist keine Bühne, sondern versteht sich als Ausschnitt aus einem universalen ,,Datenraum". Auch der perspektivische Raum der Renaissance ist schon ein ,,Datenraum", weil er bestimmte Parameter isoliert und festschreibt. Der zentralperspektivische Fluchtpunkt fokussiert die Fluchtlinien und bildet eine Konstante, mit der beliebig viele Räume konstruiert werden können. Die Perspektive ist auch noch die Grundlage der meisten digitalen Echtzeitanimationen. Wenn aber nicht die lineare Konstruktion, sondern seine Durchdringung mit Datenflüssen zum primären Parameter des Raumes wird, weicht der Sehraum der Renaissance einem auditiv-taktilen ,,Hörraum". Solch ein Raum entspricht vor- bzw. nicht-perspektivischen Kulturen, aber auch dem elektronischen Zeitalter. In der modernen Kunst haben z. B. Cézanne und die Kubisten versucht, Parameter eines ,,auditiven" Raumes auf die Fläche der Leinwand zu übersetzen. Bilder des analytischen Kubismus wirken wie gemalte ,,Notationen", wie ,,Gegenstandspartituren". Die Nähe zur Musik machen auch die häufig dargestellten Musikinstrumente deutlich. Genaugenommen sind die künstlerischen Raumvorstellungen immer schon ,,Datenräume", weil sie Daten der Realität isolieren und zu abstrakten Parametern fiktiver Welten machen (das gilt auch für die Literatur. Romanhandlungen stellen z. B. eine Stadt anhand weniger Personen und ihrer Beziehungen dar). Die Fiktionen sind in der Regel ,,geschlossen". Die Romanwelt gilt nur für den Roman. Die Filmhandlung bleibt auf der Leinwand. Daß die Figuren in den Kinosaal heraustreten wie in Woody Allens ,,Purple Rose of Cairo", ist - zumindest bis jetzt - nur als Fiktion innerhalb der Fiktion möglich.

Künstlerische ,,Datenräume" bleiben von der ,,Realität" getrennt, auch wenn Realität unmittelbar in das Kunstwerk eingeht, z. B. bei Cage. Straßengeräusche innerhalb des Stückes ,,4:33'' sind eben doch etwas anderes als ,,einfach" Straßengeräusche, sondern ein zeitlicher oder räumlicher Ausschnitt. Ähnlich ist auch RealData Stampede ein raum/zeitlicher Ausschnitt aus den verfügbaren Daten. Der Unterschied ist aber, daß die medialen Daten als unmittelbare Realität verstanden sind und nicht als ,,vermittelte".

Das Fenster, das den Straßenlärm hereinläßt, ist jetzt bei RealData Stampede eine elektronisch parallele Schnittstelle. Die Künstler sprechen von einem ,,digitalen Markt von Zeichenketten, die on-line über Kabel und Satelliten den Aufführungsort erreichen". Der digitale Code modelliert und IST damit Realität. Anstatt mit materiellen Geldscheinen erfolgen Zahlungsprozesse immer mehr mit ,,digitalem Geld".3 Durch den Binärcode als ,,Universalsprache" sind verschiedenste Prozesse digital darstellbar und damit steuerbar. Wenn Börsencrashs nicht mehr auf die Tätigkeiten von Menschen zurückführbar sind, sondern vom ,,System" generiert erscheinen, ist das digital programmierte Wirklichkeit - Stampede (engl. Panik, Meinungsumschwung) nimmt genau darauf Bezug. Solch eine Wirklichkeit wird durch RealData Stampede zwar noch nicht direkt geschaffen, aber als neues Paradigma kreativer Prozesse anschaulich inszeniert, indem Material aus verschiedenen Massenmedien parallel und in Echtzeit verarbeitet wird.

Das Ende vom Anfang

Die wohl erste Idee eines globalen Netzwerkkonzerts war das 1961/62 von Nam June Paik konzipierte Klavierkonzert. Eine Fuge von Bach sollte gleichzeitig in San Francisco (linke Hand) und in Shanghai (rechte Hand) gespielt werden.4 Obwohl sie sich auf eine traditionelle musikalische Komposition bezog, stellte Paiks Idee den Gedanken der Gleichzeitigkeit und Wechselseitigkeit des Datenflusses klar heraus. Insofern kommt sie von den erwähnten historischen Konzepten RealData Stampede am nächsten. Wenn jedoch hier eine Bachfuge herauskommt, dann ist da ein spontan entstandenes akustisches Pattern.

Um kreative Prozesse dieser Art zu erklären, braucht man keine künstlerische Ästhetik mehr, sondern eine Philosophie der Schnittstelle.

Datenklänge in Cyberia

Schnittstellenphilosophie kann auch praktische Lebensform werden: So bei Sarah Drew, der Freundin des Herausgebers der Westcoast-Cyber-Kultzeitschrift Mondo 2000. Sie ist ein ,,Cyborg", wirkt weniger wie ein menschliches Wesen als ein Mutant, ein Sprachrohr der digitalen Sphäre. Ihre durch verschiedene Sampling-Techniken kreierten ,,Soundperformances" sind eine konsequente Weiterentwicklung einer Richtung der House Musik, die von der ersten wichtigen Industrial Band Throbbing Gristle, über deren etwas softere Nachfolgegruppe Psychic TV zu den von Jody Raznik promoteten Goat Guys from Hell führt. Throbbing Gristle war eine bewußt politische Band, die sich gegen die ,,Gehirnwäsche" üblicher Musikberieselungen richtete und durch eine aggressive Collagetechnik konterkarierte. Dies setzte sich auch von der Ambient-Music Brian Enos ab, der immer noch als Vater der Cyber-Musik gilt: ,,His invention of the arty Ambient Music paved the way for Macintosh musicians off of structure and placing it on texture. These aren't songs with beginnings and endings, but extended moments - almost static experiences."5

Auch Eno richtete sich gegen den Kaufhaus-,,Muzak" und entwickelte eine ,,bewußte", intelligente Hintergrundsmusik. ,,He `surfs' his pieces toward completion, cutting, pasting, dubbing, and overdubbing. His collaboration with David Byrne, `My Life in the Bush of Ghosts' best demonstrates his use of these techniques and was the inspiration for the industrial, house, and even rap and hip-hop recording artists who followed."6

Was Ende der siebziger Jahre mit den collagierten Texturen der Ambient Music begann, ist heute durch Sarah Drew zu einer Art mystischer Kommunikation mit der virtuellen Realität der Netzwerke geworden. Unterstützt werden solche Erfahrungen durch synthetische Drogen wie Ecstasy (Eno entspricht da noch der LSD - Sensibilität der sechziger und siebziger Jahre). Der Output der Daten wird zum Grundrhythmus des Lebens, dem sich auch die Struktur der DNS durch Mutation anpaßt.7

,,Natur", wie sie bei Bill Fontana oder auch bei Eno noch als Modell der Klangumwelt dient, ist ein überholter Zustand. RealData Stampede entspricht diesem neuen Erfahrungsmodus, läßt uns die Entscheidung, zu Cyberwesen zu mutieren, aber noch offen.


Fußnoten

  1. Bill Fontana, River Soundings. In: Edith Decker, Peter Weibel (Hg.), Vom Verschwinden der Ferne. Telekommunikation und Kunst, Köln 1990, S. 113.
  2. Begleittext zur CD 437 aus der Schnittke-Edition der schwedischen Firma BIS.
  3. Vgl. Bernhard Vief, Digitales Geld. In: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt/M. 1991, S. 117-146.
  4. Vgl. dazu wie Anm. 1, S. 98.
  5. Douglas Rushkoff, Cyberia. Life in the Trenches of Hyperspace, San Francisco 1994, S. 161.
  6. Ebenda, S. 163.
  7. Vgl. ebenda, S 170 f.

Quellenangabe

Ludwig Seyfarth, RealData Stampede - Realdatenkonzert für Massenmedien und Computer. In: SYSTEM-DATEN-WELT-ARCHITEKTUR, Triton-Verlag, Wien 1995, Seite 130 ff.

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