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Rutishauser/Kuhn im Gespräch mit Thomas Feuerstein

Feuerstein Wenn ich etwas zu meiner Arbeit sagen darf, ist es vielleicht am besten, wenn ich chronologisch beginne, das macht deshalb Sinn, weil sich dadurch vielleicht bestimmte Stringenzen der Gedankengänge herauslesen lassen. Im Grunde lässt sich das vergleichen mit dem Aufbau des Katalogbuches.1 Angefangen haben die Arbeiten, da ich als Künstler natürlich immer mit dem System Kunst konfrontiert bin, mit Fragestellungen, die das Kunstsystem betreffen. Das heisst, mich interessierten Fragen, die sich mit der Geschichte, dem Markt, der gesellschaftlichen und kulturellen Konstitution von Kunst und so weiter beschäftigen, wie zum Beispiel, was zeichnet den Künstler in unserer Zeit aus, was sind dabei seine Funktionen, welche Eigenschaften schreibt ihm die Gesellschaft zu und so weiter. So ging es in der Arbeit Spurenapparat unter anderem darum, Bilder algorithmisch und nicht katalogisch zu speichern. Begriffe wie Stil oder Oeuvre wurden in ein Programm überführt, wodurch künstlerische Praktiken, die durch permanente Wiederholung einer Arbeitsmethode einen Wiedererkennungsfaktor oder eine Trademark innerhalb ihres Oeuvres und des Kunstmarktes zu etablieren versuchen, ad absurdum geführt wurden. Dieser skulpturale Apparat, der sich aus einfachen binären Elementen aufbaute, beinhaltete mathematisch mehr Bilder, als ins sichtbare Universum passen. Wir bezeichneten uns deshalb auch ironisch ­ ich sage deshalb wir, weil diese Arbeit zusammen mit Klaus Strickner entwickelt wurde ­ als die Künstler mit dem grössten Oeuvre aller Zeiten, die 1063 Bilder ihr Werk nennen konnten. Der Apparat, der einen simplen Algorithmus materialisierte und diesen vom virtuellen in den realen Raum überführte, war eine haptische Skulptur, die auf ihre Umgebung Bezug nahm, auf die Situation des Raumes reagierte und ständig andere Gestalt annehmen konnte. Der Ansatz war, ein Bild zu entwerfen, das unendlich viele Bilder enthält, aber eben nicht katalogisch gespeichert wie in einem Museum, sondern strukturell. Und natürlich haben wir dann auch einige dieser Bilder exemplarisch als Tafelbilder gemalt; umgekehrt haben wir mittels speziell bedruckter, binärer Klebebänder Alltagsgegenstände beklebt, wodurch zum Beispiel Tische und Stühle zu einem Binärmuster gescannt und dadurch wiederum in das Programm des Spurenapparates überführt werden konnten. Parallel dazu hat es ein Computerprogramm gegeben, das den Apparat simulierte und unter anderem Bilddaten in akustische Daten transformierte.

Ein weiteres Projekt, das sich auf einer anderen Ebene mit dem Verhältnis von Kunst und Markt sowie digitaler Austauschbarkeit von Systemen beschäftigte, war Hausmusik2. Ausgangsmaterial für dieses Projekt waren Börsendaten der Firma Reuters beziehungsweise laufende Kurskorrekturen internationaler Grosskonzerne wie Ciba Geigy, BMW oder Master Food. Die Börsennotationen der Aktien beziehungsweise ihre Hausse- und Baisse-Bewegungen wurden in eine musikalische Notation beziehungsweise in Midi-Daten überführt und von zwei automatischen Instrumenten, einem Klavier und einer Robotergeige interpretiert. Im Gegensatz zum Projekt Spurenapparat ist natürlich die Wirtschaft kein geschlossenes System, sondern ein offenes, das heisst alle Konsumenten ­ also etwa sechs Milliarden Menschen ­ waren direkt als Spekulanten oder indirekt als Verbraucher an der Hervorbringung dieser Musik beteiligt. Das klassische Begriffstripel der Kunstgeschichte, Originalität, Genialität, Virtuosität, löste sich gemeinsam mit der Frage nach der Autorschaft auf. Damit war aber auch ein anderer Interaktivitätsbegriff innerhalb der Kunst gefordert, der nicht alleine den Rezipienten beziehungsweise seine Geschicklichkeit, Ausdauer oder Kreativität zum Partizipienten an der Arbeit macht ­ vergleichbar mit einem Flipper-Automaten ­, sondern seine realen Voraussetzungen in der Gesellschaft miteinbezieht. Als Künstler habe ich heute weder Geld noch Macht und kann in diesem Spiel der Weltwirtschaft nicht den Ton angeben. Einem George Soros dagegen wäre es möglich gewesen, Mozarts Kleine Nachtmusik zu spielen. Obwohl die Installation auf den ersten Blick zwar nicht so aussah, lag gerade in dieser Ohnmacht eine gewisse Selbstironie versteckt. Die Installation hörte sich irgendwie e-musikartig an und veränderte je nach Uhrzeit und Wochentag ihren Klang ­ zum Beispiel wenn freitags Frankfurt schloss, war es sehr dicht und schnell. Inhaltlich faszinierte mich die Verwandtschaft zwischen Mediengeschichte und Geldgeschichte, zwischen Telematik und Ökonomie, was sich nicht zuletzt auch in der Geschichte der Firma Reuters widerspiegelt. Paul Julius Reuter baute sein Korrespondenzunternehmen mit Brieftauben auf und war später massgeblich an der ersten Vernetzung der Welt mit Telegraphenkabeln von Russland bis nach Amerika beteiligt. Der Wunsch der Telematik, möglichst schnell weite Geographien zu überbrücken, hängt eben mit dem Wunsch nach Wissen zusammen, wo es etwas billig zu kaufen und teuer zu verkaufen gibt.

Kuhn Du interessierst dich bei deiner Arbeit, sagen wir bei Hausmusik, ja nicht primär für die Wirtschaft. Hätte es die Möglichkeit gegeben, andere Systeme zu benutzen?

F Für Hausmusik hätte es kein anderes System gegeben, da war es unabdingbar, dass man das Wirtschaftssystem nimmt. Für andere Arbeiten hat es aber sehr wohl andere Systeme gegeben. Anstatt Börsendaten habe ich für Tausch des Öffentlichen auch Presse- beziehungsweise Nachrichtendaten oder für RealData Stampede auch Daten der sogenannten Massenmedien wie Radio, Fernsehen und Internet verwendet.

K Wie schaffst du das vom Umgang her: Du bewegst dich im Kunstkontext und dann brauchst du für deine Arbeit plötzlich Wirtschaftswissen? Spielt das überhaupt eine Rolle? Kannst du dich da beraten lassen oder musst du dich jeweils zu einem Experten ausbilden?

F Ich war vorher kein Experte ­ weder für Wirtschaft noch für etwas anderes ­ und bin es immer noch nicht. Deswegen ist es wichtig, richtig zu recherchieren und Kontakt mit Leuten aufzunehmen, die sich auskennen und Experten sind. Mich interessieren sehr oft Projekte, die ich alleine nicht mehr durchführen kann, wo ich spätestens bei der Realisierung, aber meistens schon viel früher, auf ein Team angewiesen bin. Das reicht vom Konzeptentwurf über das Programmieren bis hin zum Löten und Hämmern, dass du bestimmte Leute brauchst, mit denen du an Problemen arbeiten kannst; um nur mal abzustecken, ist es überhaupt möglich, wo ist mein Denkfehler, wie kann man das realisieren, was kostet das und so weiter.

K Du kommst da eben in eine neue Rolle hinein als Künstler, wenn du recherchierst, wenn du dir Fachleute suchen musst, nur schon, um dein Konzept zusammenzustellen, geschweige denn, um es nachher technisch auszuführen.

F Das Künstlersein ändert sich in dem Sinn, dass nicht mehr wie bei einem klassischen Maler oder Bildhauer der Künstler der Diktator seines eigenen Könnens innerhalb seines eigenen Metiers ist. Das kannst du zwar innerhalb des Kunstsystems immer wieder neu ausleben und ausloten, aber du stösst dann relativ schnell an die Grenzen des Systems. Ich kann sehr viel über Farbe, Leinwände, Galeristen und so weiter wissen, ich bin aber allein mit diesem Wissen für andere Phänomene auf der Welt nicht kompatibel. Ich muss von meinem Konzept her, von meiner Arbeit her Schnittstellen bilden zu anderen Leuten und Systemen und versuchen, über meine Arbeit einen Austausch in Gang zu bringen. Ich muss irgendwo ein Fenster aufmachen, das für andere interessant ist, was aber oft nicht leicht fällt.

K Du bringst dann eben auch andere Leute mit deiner Arbeit zusammen, als wenn du im Museum ausstellst und einfach die Leute, die sich für bildende Kunst oder das Museum interessieren, im Publikum hast.

F Genau, dadurch wandelt sich natürlich der Künstlerstatus, weil es ja nicht mehr so ist, dass ein einzelner allein irgend etwas hervorbringt. Der Kreativitäts- und Produktionsbegriff erweitert sich.

K Ist das etwas, was sich wiederholt in deinen Projekten, dass du die Arbeiten nicht allein machst und Fachleute beiziehen musst?

F Das lässt sich nicht generell sagen. Ich mache genauso alleine Arbeiten, die relativ klassisch sind, wie Bilder oder Fotoarbeiten. Es gibt auch bestimmte konzeptionelle Arbeiten, wo ich lieber allein bleibe, die auf dem Zeichenpapier stattfinden, die ich skizziere und einen kurzen Text dazu schreibe. Aber sobald das grössere Dinge sind, wo ich verschiedene Experten benötige, weil mein eigenes Wissen einfach nicht mehr ausreicht, dann komme ich automatisch in die Zwangslage, mit anderen Leuten Kontakt aufzunehmen. Dadurch ergeben sich andere Qualitäten in der Arbeit, obwohl ich nicht behaupten möchte, dass nur das eine oder nur das andere gut ist; es liegen Qualitäten in beiden Arbeitsmethoden.

K Ich wollte dich vor allem im Zusammenhang mit Hausmusik nach der Rezipierbarkeit fragen.

F Das Projekt war einfach und didaktisch angelegt. Im wesentlichen bestand es für den Rezipienten aus drei Ebenen. Die erste bildeten zwei Reuters-Terminals, auf denen sich online die Kursschwankungen der verschiedenen Aktien auf den verschiedenen Börsen ablesen liessen. Auf der zweiten Ebene sah man ebenfalls auf zwei Terminals, wie die Börsendaten in Midi-Daten transformiert wurden, und auf der dritten hörte man das Ergebnis. Wenn der Kurs von Ciba Geigy fällt, hörst du einen tiefen Ton, wenn er steigt einen hohen. Geige und Klavier waren dabei ein didaktisches Publikumsinterface und nicht so wichtig, die Töne hätten dabei genauso unsichtbar von einem Synthesizer kommen können.

Rutishauser Und wie ist denn das Umfeld, wo die Arbeit gezeigt wird, ist es das Umfeld der Kunst?

F In diesem Fall war es eine Veranstaltungsreihe, die unitn hiess.3 Ein anderes Mal ist Hausmusik in der Ausstellung Künstliche Spiele m Medienlabor München gezeigt worden. Dort hat die Arbeit zum Beispiel nicht funktioniert, weil die Ausstellungskuratoren durch die Ausstellungsarchitektur und die Beleuchtung eine beinahe sakrale Installation daraus gemacht haben. Aus einer normalen Bürosituation wurde ein Medienaltar, der den Geräten und der Technik eine vordergründige Bedeutung gab. Wenn man jetzt in dieser Reihe von Medienprojekten bleibt, dann sind noch Tausch des Öffentlichen und RealData Stampede zu nennen. Als Input für Tausch des Öffentlichen dienten Nachrichtendaten der Austria Presse Agentur (APA), die über ein neuronales Netzprogramm in einen privaten Speicher, in den Referenztext Auf der Suche nach der verlorenen Zeit4 von Marcel Proust hineingerechnet wurden. Der Proust-Text als Teil moderner Literaturgeschichte war deshalb ideal, weil er für mich eine Art autistisches Medienverhalten permanenter Aufzeichnung und Wiederholung antizipiert, und wenn Proust sagt, dass man beim Zeitungslesen und beim Kaffeetrinken Zeit verliert, die man dann nur in der Liebe wiederfindet, so ist das für mich ein romantisches Modell für den Medienkonsum, bei dem man Zeit verliert, aber keine Liebe findet. Über die Leitung kamen Meldungen herein, die der Rechner über die Erinnerung des Romanhelden interpretierte. Da die Welt von Proust mit der von APA wenig gemeinsam hat, kam es zu einer Textgenerierung, bei der die Maschine, je weniger sie verstand, um so mehr Wörter schrieb, wodurch die Zeilen aus dem Nadeldrucker so schnell herausgeschossen kamen, dass man sie nicht mehr in der selben Geschwindigkeit lesen konnte. Die Maschine hätte einen 240-Stunden-Roman schreiben sollen, aber sie ist des öfteren abgestürzt, so dass es weit weniger waren. Das ganze war natürlich auch eine Ironisierung von Informationsflut, Medienrezeption und Subjektbegriff. Du kannst zehn Jahre lesen und hast noch hundert Jahre Text vor dir, das ist dann das Asynchrone zwischen Mensch und Maschine. Von Philippe Sollers, einem fundierten Proust-Kenner, habe ich kürzlich einen Roman gelesen, bei dem ich ebenfalls keinen richtigen Anfang und kein richtiges Ende finden konnte. Das ist für mich ja eines der Themen der Moderne, was man nicht nur bei Proust, sondern auch bei Musil oder Joyce trifft, das sind vielleicht Antizipationen von Online-Romanen, auch wenn das die Germanisten anders sehen. Sollers Text hat keine Punkte und Beistriche, die Sätze gehen wie bei der Proustmaschine ineinander über. Die Maschine steigt an einem beliebigen Tag in das Weltgeschehen ein und schreibt einen endlosen Roman. Bleibt man in dieser Genealogie, ist noch RealData Stampede zu nennen, das nicht Daten exklusiver Netze wie Reuters oder APA, sondern massenmediale Daten wie Radio, Fernsehen und Internet verwendete. Die Idee war, in Datenräumen zu navigieren und diese wie Fluglotsen zu überwachen. Normalerweise sitzt du in deinem Wohnzimmer und switchst von Kanal zu Kanal und konsumierst Sendeplätze. Nun war die Idee, alles gleichzeitig empfangen zu wollen, also wirklich hundert verschiedene Kanäle gleichzeitig, online oder on air in Echtzeit mit Computern zu verarbeiten. Ich ging davon aus, dass fünf Datenwolken wie Atmosphären in der Form der fünf platonischen Körper die Weltkugel umkreisen und jede repräsentiert eine der inhaltlichen Schienen der Medien ­ Infotainment, Entertainment, Edutainment, Sports, Commercials ­, aus denen dann dazu die jeweiligen Daten entnommen und gemischt wurden. Es ging darum, wie ein DJ zu arbeiten, der aber nicht ein starres Archiv zur Verfügung hat, sondern nur das, was zur Zeit in der Luft und in den Kabeln ist. Das Ganze war ein Versuch, Techno, Sampling und Remix von seinem Solipsismus zu befreien und wirklich auf der Ton- und Bildebene mit der Medienwelt kurzzuschliessen und einen anderen Umgang mit Massenmedien zu erproben, der vom Zappen und vom Archive-Bilden sich unterscheidet.

K Wie sah denn dieses Projekt technisch aus?

F Eine chaotische Bastelei: Wir hatten Pulte mit Empfängern, wo terrestrisch und über Satellit Dutzende von Signalen hereinkamen und wo wir natürlich auch switchen konnten. Die einzelnen Signale liefen weiter in Mischpulte, die wiederum von Computern gesteuert waren und so eine blitzschnelle Mischung, Sequenzierung oder Zerstückelung der einzelnen Kanäle ermöglichten. Daten aus dem Internet wurden von Sprachgeneratoren gerapt und Störgeräusche auf Kurzwelle wurden in digitale Impulse verwandelt, die ein Reservoir an Beats bereitstellten.

K Es geht in diesen Arbeiten immer darum, Daten online anzuzapfen und dann umzuwandeln. Die Umsetzungen sind dabei immer sehr technisch. Ich frage mich, ob diese Arbeit so verschieden ist von irgendeiner anderen künstlerischen Arbeit.

F Ich finde den Einsatz von Computern und Technologie nicht so wichtig. Wenn Künstler den Ehrgeiz entwickeln, grosse Maschinen und teure Geräte zu verwenden, dann trifft das eine sportliche Dimension. Ich glaube nicht, dass das vorrangig der Ehrgeiz des Künstlers sein sollte. Für mich hatten Maschinen technisch gesehen immer einen peripheren Charakter, sie waren mir mehr konzeptuell wichtig. Ein Computer hat für mich nichts Heroisches mehr, überall wo man hingeht, sind Computer. Und das finde ich natürlich wiederum sehr spannend, wie Computer Gesellschaft strukturieren, oder wie Gesellschaft die Strukturen des Computers auf ihre eigenen Strukturen überträgt.

K Wenn du aber in einer Ausstellung Computer brauchst, dann bist du doch ein Computerkünstler, oder ein Medienkünstler.

F Man wird zwangsläufig als Medienkünstler bezeichnet. Ich sehe das aber nicht als die einzige Richtung in meiner Arbeit, sondern eher in einem erweiterten Sinn. Medienkunst hat sich aus Kunstrichtungen wie unter anderem der Konzeptkunst entwickelt und umgekehrt fangen heute Künstler ­ die mit klassischer Medienkunst nichts zu tun haben ­ an, mit Computern und Medien zu arbeiten.

K Ich finde es interessant, dass du sagst, die Geige und das Keyboard hätten dich eigentlich nicht interessiert. Du distanzierst dich damit von der Materialisierung deiner Arbeit. Ist dir denn das Konzept das Wichtige?

F Ja, irgendwie ist das Konzept immer wichtig. Ich gebe aber gerne zu, dass eine formale Umsetzung zumindest didaktisch sehr wichtig ist und den Erfolg oder die Wirkung einer Arbeit bestimmt.

K Dann ist eigentlich die Materialisierung eines Konzeptes die Konzession an ein Publikum.

F Wenn man das radikal denkt, bräuchte man die Arbeit gar nicht zu realisieren. Man könnte sie rein konzeptuell planen, die Durchführbarkeit bei irgendeiner Stelle prüfen lassen; dann bekommt man von einer künstlerischen Patentanstalt einen Stempel auf die Skizze und hat legitimiert, dass die Arbeit funktionieren würde. Nur, ich glaube, die Realisierung von Arbeiten fördert deren Lesbarkeit, gerade in der bildenden Kunst. Ich glaube auch, dass immer noch eine gewisse Qualität hinzutritt bei der Realisierung einer Arbeit. Das mag vielleicht ein konservativer Standpunkt sein, wenn man von Cyberwelten spricht, aber ich glaube, letztendlich hat die Realisierung doch eine Qualität, die einen Mehrwert bedeutet.

R Erst wenn man eine Arbeit realisiert, merkt man, dass man nicht alle Dimensionen denken kann, auf die stösst man dann erst. Im Verlauf der Realisierung verändern sich deshalb gewisse Aspekte des Konzeptes.

F Realisierung bedeutet immer eine Rückbindung an bestimmte Bedingungen, wie etwa die Materialität und Eigenschaft eines Stückes Holz oder einer Farbe, aber vor allem sind es soziale oder kulturelle Bedingungen, wie die des Marktes, des Rezipienten, Kritikers, Kurators, Sammlers und so weiter. Es ist ein soziales Gefüge, dem man sich als Künstler stellt, und das ist letztendlich auch der eigentliche Kontext der Arbeit. Die bildende Kunst hat anderen Kunstsystemen hier zum Teil einiges voraus, da sie schon früh ihre eigenen Kontexte und damit auch Krisen thematisiert hat. In der sogenannten Hochkultur, im Theater oder in der Oper, spürt man das bis heute noch wenig. Ein Opern- oder Theaterdirektor würde nie seine Bühne in Frage stellen. In der bildenden Kunst passiert das regelmässig, jeder Künstler reflektiert aus seiner solitären Situation heraus seine Arbeit und ihre gesellschaftliche Funktion. Auf der einen Seite ist das gut, auf der anderen Seite ist permanente Selbstreferentialität ein Fluch. Das Spektrum der Kunst liegt zwischen einer L'art-pour-l'art-Situation und einer Politkunst-Situation. Ich glaube, es wäre in der heutigen Zeit falsch, nur einen dieser Wege zu beschreiten. Obwohl nach Luhmann Systeme selbstreferentiell sind und sich nach innen und aussen immer weiter ausdifferenzieren, können sie sich dennoch ­ und oft gerade deshalb ­ neue Felder erschliessen. Das Kunstsystem ist ein besonders träges System und darunter leiden besonders innovative Künstler, die vom Markt ignoriert werden, wohingegen traditionelle Dinge akzeptiert sind.

R Du hast von der privilegierten Situation des Kunstsystems gesprochen. Das einzige, was die Entwicklung des Kunstsystems hemmt, aber innerhalb des Kunstsystems ausgeklammert ist aus dieser Entwicklung, wäre der Markt selbst, der Kunstmarkt. Der ist, scheint mir, sehr stark an die alten Bedingungen geknüpft.

F Auf alle Fälle, sonst könnte er in seiner heutigen Form gar nicht überleben. Innovative Galerien tun sich viel schwerer, Dinge an den Mann zu bringen als traditionelle Galerien. Das hat, wie schon gesagt, etwas mit dem Wiedererkennungsfaktor und den Sehgewohnheiten zu tun; denn nur Künstler, die ein redundantes Oeuvre anzubieten haben, haben Chancen, im Kunstmarkt gut zu verkaufen. Das hat wiederum auch etwas mit unserer Mediengesellschaft zu tun, die auf einer Ambivalenz zwischen Sensation und Wiederholung basiert, und Kultur wird dabei zu oft in das Eck der Tradition, Identität, Nostalgie oder Repräsentation gedrängt. Ausserdem merken wir uns nur Namen, die wir in bestimmten Abständen lesen oder hören und dann identitätssetzend mit einem bestimmten Werk verbinden. Erst wenn die Identität zwischen Künstler und Werk über Medien erzielt ist, und das setzt nun einmal hartnäckige Redundanz voraus, fangen sich Banken, Sammler und Privatleute an zu interessieren. Dann steckt die innere Notwendigkeit, von der Kandinsky sprach, nicht mehr im Künstler, sondern im Markt. Hier lässt sich gut erkennen, mit welchen Klischees zum Beispiel die Deutsche Bank arbeitet, und welche Klischees die Künstler, die dort vertreten sind, abdecken. Im Markt ist Kunst eine Kompensationsfrage und deshalb kann der Markt, der die Kunst normalerweise ernährt, ihr auch schaden. Am Beispiel der Malerei der Neuen Wilden in den 80er Jahren sieht man sehr schön, wie überholt geglaubte Formen nach den schwierigen 60er und 70er Jahren wieder gerne angenommen wurden und der Kunstmarkt für kurze Zeit boomte wie noch nie. Am bösen Erwachen laborieren wir noch heute und am allermeisten die Galerien selbst. Aber nicht nur dem Kunstmarkt sollte man mit konstruktivem Misstrauen begegnen, sondern auch der Computerindustrie. Auch Medienkünstler müssen vielleicht in Zukunft mehr aufpassen, nicht Opfer irgendwelcher Visualisierungsstrategien zu werden.

K In der Ausstellung Am Anfang war5 in der Kunsthalle Hall in Tirol haben wir eine aktuelle Arbeit von dir gesehen. Du hast dort eine Tafel mit dem Alphabet gebraucht und auf einem Monitor Buchstabenfolgen ablaufen lassen. Kommt das von einer Beschäftigung mit Sprache her, mit dem Alphabet, mit Kodierungen, mit Zeichen?

F Ich würde es für diese Arbeit ganz allgemein als eine Beschäftigung mit Information im erweiterten Sinne fassen, und das wichtigste Dissipationsmedium für Information ist nun mal der alphanumerische Code, weil dieser unser Denken strukturiert und Verbindungen herstellt. Wir sind konditioniert, in Buchstaben, Wörtern und der linearen Abfolge von Sätzen zu denken und deswegen ist es für mich in dieser Arbeit naheliegend, das Set, mit dem wir unsere Denkoperationen ausführen, als Keyboard darzustellen. Diese Schreibmaschinentastatur mit ihrer Gitterstruktur der Tasten eröffnet uns einerseits einen Blick über die unmittelbare Realität hinaus, andererseits sperrt sie uns ein, sobald etwas nicht mehr in Schrift transformierbar ist. Das ist die Doppelstruktur von Sprache, ein vergittertes Fenster, gleichzeitig Freiheit und Gefängnis. Es fasziniert an Buchstaben, dass sie ein beschränktes Zeichensystem bilden und dennoch unendlich viele Möglichkeiten an Kombinationen bieten, also, dass ein geschlossenes Codesystem ein offenes Sinnsystem ermöglicht.

Aber natürlich wandeln sich auch Codesysteme und es kommen neue hinzu, das sieht man gerade bei Jugendkulturen. Jede Körperschaft ­ egal ob es sich um die Freimaurer, einen Industriekonzern, eine Religionsgemeinschaft oder eine Gang handelt ­ versucht ihr eigenes Codesystem zu etablieren, um damit nach innen und aussen zu kommunizieren. So passieren eben ständige Ausdifferenzierungen hin zu neuen Subsprachen.

K Es ist doch auffällig, dass diese Subsprachen vor allem aus der Sprache herausdriften.

F Das ist vielleicht so ein massenmedialer Habitus unserer Logokultur, wo alles semiotisiert wird, indem alles bezeichnet und ästhetisiert wird und wo plötzlich völlig neue Faktoren eine Rolle spielen. Was ist zum Beispiel der Flirtfaktor eines Produktes, das du kaufst? Wie hoch ist der Flirtfaktor meiner Armbanduhr? So werden Produkte heute semiotisiert und in Lifestyle-Magazinen angepriesen.

K Das ist wie mit diesem Werbeclip für Mineralwasser, der auf einem Hip-Hop-Stück aufgebaut ist. Da kommt null Text drin vor, der ist sehr spielerisch, der ist schrill und farbig und schnell und da kommen Kids drin vor, die sind fröhlich und springen umher. Klar, das kennen wir: Trink das Mineralwasser, dann bist du auch so. In dem Clip kommt aber nicht mal am Schluss eine Stimme vor, die sagt worum es geht, da sieht man nur noch den Schriftzug, den musst du aber auch nicht lesen, weil du ihn nämlich in seiner typographischen Gestaltung erkennst.

F Das heisst, die Zeichenebene verschiebt sich. Das ist ja im Grunde auch Teil eurer künstlerischen Arbeit, nur dass ihr die Bedeutungsebenen verschiebt. Es geht dabei nicht so sehr darum, was ein Satz mir erzählt, sondern wie sich seine Bedeutungsebene verschiebt und wie er dadurch anders lesbar wird.

K Ich würde eben sagen, das wandelt sich von einer Lesbarkeit zu einer Erkennbarkeit; Barthes spricht von lisible und visible.

F Du hast recht, das hat nichts mehr mit Lesbarkeit zu tun; denn lesen kommt ja etymologisch von klauben. Beim Lesen eines Buches klaubst du Buchstaben zu einem Text und diesen zu einem Sinn zusammen, und im Falle des Werbeclips hast du keine Zeit zum Klauben, du hast die Bedeutung blitzartig. Das ist nicht mehr so eine thesaurische Wahrnehmung, indem ich einfach Buchstaben zu Wörtern füge, sondern das ist eine strukturelle Wahrnehmung, vergleichbar einer Fuge in der Musik; wenn ich sie gehört habe, brauche ich nicht weiter hören, weil ich mir ausrechnen kann wie es weiter geht. Das bewirkt eine Komprimierung der Wahrnehmung, und Informationen werden nicht mehr sequentiell aufgenommen, sondern wie bei einer parallelen Schnittstelle eines Computers gleichzeitig verarbeitet. Ich spreche jetzt sequentiell, aber wenn ich jetzt alles, was ich bisher gesagt habe, auf einmal sagen würde, wäre das sinnloser Lärm, oder auch wenn ich es in eine Zeile schreiben würde, wäre diese Zeile ein schwarzer Balken. Eine gute CD-ROM zum Beispiel wäre für mich ein solcher auf einen Punkt geschrumpfter Balken, und immer wenn du an einer Stelle hineinklickst, ergeben sich neue Dinge. Das ist wie in dieser Geschichte von Borges: Borges tauscht in der Geschichte Das Sandbuch6 seine Erstausgabe der Wyclif-Bibel gegen das sogenannte Sandbuch. Der Händler sagt ihm, er müsse aufpassen, denn das Sandbuch habe keinen Anfang und kein Ende und man findet niemals eine Seite wieder, wenn man es zuschlägt. Er schlägt das Buch zu und versucht die Seite wieder zu finden. Er denkt sich, so dick ist das Buch nicht, ich finde sie schon, aber er findet sie natürlich nie wieder. Das Sandbuch ist für mich ein gutes Modell für eine CD-ROM oder das Web. Die Geschichte bei Borges endet zwar so, dass er Alpträume bekommt und das Buch schliesslich als obszön empfindet, weil es unsere Wirklichkeit korrumpiert. Um ein unendliches Feuer zu vermeiden, verbrennt er es nicht, sondern versteckt es in der Bibliothek. Genau diesen Phänomenen sich zu stellen ist, glaube ich, besonders für bildende Künstler eine spannende Angelegenheit.

K Das ist vor allem spannend, weil sich da wieder eine Art Sprache entwickelt, die nicht so verschieden von unserer Sprache ist. Sie läuft zum Beispiel auch linear und wir sind wieder gleich weit wie Flusser, der die Krise der Linearität festgestellt hat und die Beeinflussung des Denkens durch die Möglichkeiten des Computers.

F In seinem Buch Für eine Philosophie der Fotografie7 schreibt Flusser über das Programm der Fotografie. Er sagt, der normale Nutzer der Fotografie bewegt sich im mittleren Spektrum dieses Programms und macht deshalb auch normale Fotos, wie es ihm eben das Programm, die Chemie des Films und die Optik der Kamera vorschreiben. Als künstlerischer Fotograf sozusagen kommst du sehr schnell an den Rand dieses Programmspektrums, bis du es letztendlich verlässt und mit der Kamera ganz etwas anderes machst. Als Künstler demontierst du entweder Programme oder du schreibst dir neue. Das Interessante für Künstler ist, das Programm bis zu dem Punkt auszuloten, wo sie das Programm verlassen und es von aussen betrachten. Im Grunde ist das nichts anderes als das, was ihr in euren Präsentationen tut: Ihr verlässt ja auch das Programm und zerstört es. Indem die Buchstaben auf dem Monitor sich überschreiben, löscht ihr die Buchstaben aus.8

K Wir haben in unserer Arbeit festgestellt, dass das Zerlegen von Sprache eine Möglichkeit ist, das Sprachmaterial wieder besser brauchen zu können.

F Die Kunst hat immer wieder versucht, bestimmte Dinge zu radikalisieren, zu beschleunigen oder zu verändern. Da macht es natürlich auch Sinn, wenn ich ein bestimmtes System wie zum Beispiel die Sprache so weit auslote, bis ich weiss was sie taugt und wo ihre Grenzen liegen.

Bei der Fotografie verlässt du das Programm, wenn du plötzlich keinen Fotoapparat mehr verwendest und trotzdem noch Fotografie machst. Das heisst, irgendwann stösst du immer an die Grenze deines Mediums, und damit bist du an dem Punkt, der wieder für deine Arbeit, gerade auch vielleicht mit dem Fotoapparat innerhalb des normalen Programms, interessant ist.

K Das stimmt, aber ich weiss nicht, ob wir mit dem, was wir uns erarbeitet haben, wirklich zu einer Sprache finden können, die auch im konstruktiven Sinn wieder brauchbar ist.

Wir stellen fest, das kristallisiert sich mit der Zeit erst heraus, dass unsere Texte häufig einen formalinhaltlichen Kurzschluss produzieren, indem sie inhaltlich ihre formale Behandlung beschreiben: der Text als Gebrauchsanweisung. Wir haben zum Beispiel einen Text, der über die Dekonstruktion der Sprache spricht, zerlegt und nachher alphabetisch sortiert. Wir haben die Sprache so dekonstruiert, wie der Text das beschrieben hat. Man muss dann am Schluss den Text nicht mehr kennen und kommt über die spezifische Form auf den Inhalt zurück. Auf einer weiteren Ebene, und da ist wieder dieser Kurzschluss, hast du dort das Wortmaterial, aus dem du mit genügend Geduld den Text wirklich konstruieren kannst. Wobei mich nicht interessieren würde, dass unser Text rekonstruiert würde, sondern mich würden dann alle anderen Texte interessieren.

FDie Texte, die bei dieser Transformation entstehen?

K Ja, du kommst über eine Vielzahl von Texten, sagen wir, mit unseren Wörtern, zu deinem eigenen Text. Dieser Kurzschluss in unseren Arbeiten kommt immer häufiger vor, weil wir mit der Sprache arbeiten, inhaltlich und formal.

F Das ist wie bei manchen Algorithmen, die durch Iterationen und Schleifen Differenzen produzieren. Im klassischen Kunstverständnis liegen die Differenzen als sogenannte Entwicklung im Oeuvre, wo sie sich als Schichten in der Kunstgeschichte ablagern. Interessante Kunstwerke sind für mich dagegen jene, die selbst produktiv werden und selbständig Differenzen produzieren. Die Vorteile des zeitgenössischen Künstlers sind daher die, dass er ständig von seinen Arbeiten lernen kann und so sein eigener Schüler ist. Aus den Wiederholungen resultiert damit nicht eine stilistische Identität, sondern es ergeben sich Verschiebungen und Prozesse. Wenn der Maler N. jeden Tag in einem rituellen Gestus rote Farbe auf die Leinwand schüttet und der Maler A. jeden Tag eine Seite seines Kunstgeschichtelexikons übermalt, werden sie früher oder später zu Epigonen ihrer eigenen Kunst und sind schlimmer als Coca Cola. Eure Arbeit begreift man dagegen am besten, wenn man sie kontinuierlich verfolgt, wenn man bestimmte Arbeiten kennt und weiss, wie ihr zum neuesten Ergebnis gekommen seid. Jede Arbeit ist anders, weil es Rückimporte gibt, die ständig neue interessante Verschiebungen und Differenzen bewirken und nicht mehr auf permanente, zyklische, idente Wiederholungen aufbauen. In euren Präsentationen zum Beispiel, die sehr sprachimmanent sind, bleibt ihr bewusst im System der Sprache. Für mich ist das auch eine Anspielung und fast so etwas wie eine Abrechnung mit der Kunstgeschichte der Moderne, wie ein Schlussstrichziehen, wie ein Nullpunkt und Neubeginn.

K Ich möchte nochmals zurückkommen auf das Verlassen und Zerstören des Programms, auf die Frage, wie strapazierfähig das Material ist, mit dem du arbeitest. Bei der Arbeit an der Sprache stellt sich doch die Frage: Kann die Sprache überstrapaziert werden?

F Ich glaube schon, es ist sogar eine notwendige Massnahme, ohne die Kunst im Mittelmass bleibt. Innovation gibt es nur an den Randzonen des Systems. Der Wiener Gruppe um Achleitner, Artmann, Jandl und so weiter ist es eindrucksvoll gelungen, Sprache zu überstrapazieren, und Leute wie Kosuth oder Gappmayr haben dies zur selben Zeit auch geschafft. Vor zweihundert Jahren wären diese Arbeiten vermutlich nicht lesbar gewesen, das heisst sie wären gar nicht als Arbeiten erkannt worden. Deshalb stösst man immer wieder an die Grenzen eines Mediums und versucht es zu expandieren, zu dekonstruieren oder man synthetisiert es und baut Links zu anderen Medien. In der Malerei zum Beispiel hat Cézanne das Bild in distinkte Elemente, in Kugel, Kegel und Zylinder zerlegt und sozusagen die normalen Sehgewohnheiten seiner Zeit mächtig überstrapaziert.

K Würdest du sagen, die Sprache ist dann überstrapaziert, wenn sie die Allgemeinverständlichkeit verlässt?

F Wenn man Sprache als Kommunikationsmedium versteht, würde ich das einmal so behaupten. Sprache als reines Verständigungsmittel zielt immer auf Common sense, zumindest gibt sie das vor zu tun, obwohl sie das nie erreicht. Das ist natürlich immer interessant für einen Künstler oder Schriftsteller, genau diesen Common sense zu expandieren oder zu dekonstruieren, um ihn zu verrücken und diese Verrücktheit im Werk sichtbar zu machen. Solche Arbeiten müssen auch nicht von sämtlichen aussenstehenden Problemen losgelöst sein, sie können durchaus von einer allgemein kulturellen oder sozialen, politischen Relevanz sein.

K Wir stossen immer wieder auf diesen Punkt, und mir scheint, wenn du dieses Problem im Zusammenhang mit Sprache diskutierst, ist das sehr viel schwieriger, als wenn ich mir zum Beispiel überlege, in der neuen Musik, welche Möglichkeiten, die Musik zu strapazieren da existieren, welche Komponisten es da gibt, die das auf die Spitze treiben bis zur Unerträglichkeit.

F Das gibt es in der Literatur auch.

K Wenn du über Musik sprichst, dann bedienst du dich der Sprache, wir schreiben ja auch mit der Sprache gerade über die Musik.

F In der Literatur gibt es genügend Beispiele; wenn in einem Wort achtzehn R auftauchen oder fünfundfünfzigmal das gleiche Wort hintereinander auf einer Seite steht, bin ich als Leser ganz schön strapaziert. Das sind Buchstaben-, Wort- und Sinnfolgen, die fast unlesbar sind, und ich fühle mich in meinem Verständnis strapaziert. Dass die Sprache selbst strapaziert werden kann, glaube ich nicht, denn Zeichen kann man nicht strapazieren. Die Strapaze findet immer im Leser selber statt. Man kann auch die Farbe Blau nicht strapazieren, aber man kann blaue Bilder so gross machen, wie Newman oder Klein es taten, von denen sich die Leute irgendwann in den 50er Jahren wirklich strapaziert fühlten. Zeichensysteme sind eben symbolisch und nicht real. Die eigentliche Heimat des Künstlers sind Symbolsysteme und seine Aufgabe ist unter anderem, diese mit neuem Sinn zu füllen, damit Dinge neu gesehen und ästhetisch entziffert werden können. Es geht also darum, in den Symbolsystemen neue Wahrnehmungsfenster aufzumachen, und das hat wiederum viel mit Realsystemen zu tun.


Fußnoten

  1. Informationen zu den im Gespräch erwähnten Arbeiten von Thomas Feuerstein siehe: Thomas Feuerstein, System-Daten-Welt-Architektur, Triton Verlag, Wien 1995
  2. Thomas Feuerstein, Mathias Fuchs, Klaus Strickner, Mia Zabelka, Hausmusik, Konzert für realdatengesteuerte Instrumente, Triton Verlag, Wien 1993
  3. Eikon, Medien.Kunst.Passagen. (Hrsg.), Reflexionen zu Kunst und neuen Medien, unitn Publikation, Triton Verlag, Wien 1993
  4. Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main 1976
  5. Richard Kriesche, Peter Hoffmann (Hrsg.), Am Anfang war..., Kunsthalle Tirol, Hall in Tirol 1995
  6. Jorge Luis Borges, Das Sandbuch, in: Spiegel und Maske, Erzählungen, Fischer Verlag, Frankfurt a. Main 1993
  7. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, European Photography, Göttingen 1997
  8. Informationen zu den im Gespräch erwähnten Arbeiten von Rutishauser/Kuhn siehe: Rutishauser/Kuhn, Inhalt und Form (ID 5 bis 28), edition fink, Zürich 1998

Quellenangabe

Rutishauser/Kuhn im Gespräch mit Thomas Feuerstein. In: Rutishauser/Kuhn, Gespräche Inserts, Triton-Verlag, Wien 1998, Seite 19 ff.

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