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Thomas Feuerstein
Hausmusik
Digitaler Meineid - das Gemeine in der Kunst

1. Der öffentliche Raum als Geldraum

Historisch betrachtet nahm mit der wachsenden Komplexität einer Gesellschaft die Bedeutung des Organisationsfaktors Geld zu. Das ist bekanntlich bereits in vorkapitalistischen Organisationsprinzipien von Herrschaft abzulesen - etwa in der Bildung von Zünften in der mittelalterlichen Stadt, mit der ein verstärktes Verlangen nach der Konvertierbarkeit von Waren in Geld einherging. Mit der Zunahme des Fernhandels wurde die Stadt und ihr lokaler Markt, der in den Händen von Gilden und Zünften lag, zu einem Knoten in einem weitgespannten Handelsnetz. Komplexere Märkte neuer Art entstanden, die sich zu regelmäßigen Messen formierten und mit denen schon früh die Entwicklung finanzkapitalistischer Techniken einsetzte - erinnert sei in diesem Zusammenhang an sogenannte Messebriefe, wie sie in der Champagne bereits im 13. Jh. gebräuchlich waren. Diese Messen avancierten in ihrer Geschichte zu dauerhaften Einrichtungen und etablierten sich schließlich zu Börsen. Damit war eine neue kaufmännischen Obsession des ,,Dabeiseins ohne dabei zu sein" geboren, die heute in Form der Television, des Radios, des Telefons usw. jeden zum ,,Kaufmann" macht. Die immer weitere Perfektionierung des Stoffes Geld gewährleistete eine bessere Konvertierbarkeit von Geld, und durch die gänzlich symbolische Ersetzung seiner Stofflichkeit wurde Geld zum wichtigsten Medium. Die symbolische Substitution der Stofflichkeit des Geldes war die Voraussetzung seiner medialen Emergenz, die nun Transaktionen und Interaktionen in Form unpersönlicher Beziehungen ermöglichte. Die Börse als Markt besonderer Art erlaubte den Handel mit Beteiligungen, womit Partizipation selbst zur Ware transformierte und der Tauschwert den Gebrauchswert völlig verdrängte. Mit der Etablierung der Börse stieg das Bedürfnis an Information von Marktdaten sprunghaft an: Alles, was mit dem gesellschaftlichen Geschehen etwas zu tun haben könnte, ist plötzlich von größtem Interesse. Nachdem anonyme Gesellschaften in der Gesellschaft (=Aktiengesellschaften) entstanden waren und sich ein weitgespanntes Netz ökonomischer Abhängigkeiten entfaltet hatte - Aktien an Unternehmungen portugiesischer, französischer, niederländischer oder englischer Kompanien wurden bereits 1611 an der damals wichtigsten Börse in Amsterdam gehandelt -, entwickelte sich in den Bahnen des Warenverkehrs rasch ein reger Nachrichtenverkehr. Auf Grund des Informationsbedürfnisses über räumlich entfernte Vorgänge wurden Handelsstädte zugleich zu wichtigen Zentren des Nachrichtenverkehrs. Mit der Entstehung von Börsen institutionalisierten sich etwa zeitgleich Post- und Pressewesen. Nimmt man zum Nachrichtenverkehr, der im wesentlichen in den Pfaden des Handelsverkehrs heranwuchs, und zum Geldverkehr noch die Entwicklung der Militärtechnologien, so erhält man das klassische Triple, aus dem sich unser heutiger Medienverbund rekrutiert. Allen dreien gemeinsam ist ein informationsorientiertes Verhalten, das in einem sich gegenseitig bedingenden Wechselverhältnis zur Entwicklung des Kapitalismus steht. In Zeiten der industriellen Revolution explodierte das Aktienkapital, das den Börsenverkehr vermehrte und vor allem beschleunigte. Korrespondenzunternehmer sahen sich veranlaßt, Taubenposten einzurichten, wie etwa Charles Havas oder Paul Julius Reuter. Ab der Mitte des 19. Jh. standen zur Fernübertragung Telegrafenlinien zur Verfügung. Charles Havas in Paris, Paul Julius Reuter in London und Bernhard Wolff in Berlin teilten sich im ersten halben Jahrhundert der modernen Telekommunikation den Nachrichtenmarkt, indem sie ein internationales Kartell schlossen, das die Welt in vier Interessensgebiete aufteilte. Die bedeutende Rolle, die diese drei privatwirtschaftlich organisierten Unternehmen, die zunächst Wirtschaftsnachrichten, bald darauf auch politische Nachrichten übermittelten, für Börsen und ihre Spekulanten spielten, läßt sich aus der Verflechtung mit den wichtigsten Bankinstituten der Zeit erschließen: Reuter etwa ging Verbindungen mit der Union Bank of Scotland und der London and Provincial Bank ein. Ein kapitalistischer Imperialismus begleitete in der Folgezeit die Knüpfung und Verflechtung telekommunikativer Netzwerke, die die Welt vielleicht weniger zu einem ,,global village" als zu einer gigantischen Börse machten.

2. Medienkunst als Kunst des Kapitalismus

Medien, die vornehmlich unsere Öffentlichkeit zu organisieren beanspruchen, sind kapitalistische Mechanismen, die aber nicht - wie vielleicht ursprünglich gedacht - ein demokratisches Räsonnement gegenüber dem Staat einbringen wollen, sondern in dem Ausmaß, wie Nachrichten zu Waren wurden, kam es zu einer Subsumierung von Medien durch Wirtschaft und von Politik durch Wirtschaft und Medien, so daß eine mediale Anteilnahme nur noch um der ,,Anteile" willen stattfindet. Öffentlich kann seitdem nur mehr das sein, was ,,obenauf" schwimmt und der Allgemeinheit sofort zugänglich und einsehbar ist. Zugänglichkeit und Einsehbarkeit werden hier zu Kategorien des Erinnerns, der Konvention, Tradition und Kompatibilität. Öffentlichkeit findet heute weitgehend in unseren Köpfen als gemeinsame Erinnerung statt. Der öffentliche Raum als mnemotechnischer Raum eines kollektiven Gedächtnisses vermischt sich heute mit der nostalgischen Vorstellung von öffentlichen Räumen als Handlungs- und Kommunikationsräume, die aber wiederum nur begrifflicher Bestandteil des kollektiven mnestischen Kataloges sind und von diesem verwaltet werden. Öffentlicher Raum ist heute im erweiterten Sinne ein semiotisches Problem: Galt öffentlicher Raum im griechischen Stadtstaat als der Bereich der Polis, die im Unterschied zum Oikos allen freien Bürgern zugänglich war und in der Agora ihren ,,einsehbarsten" Ausdruck fand, so war es im Mittelalter und in der Neuzeit der Markt, der sich heute abgekoppelt vom Gebrauchswert der Waren über die Mediatisierung im Tauschwert der Zeichen manifestiert. An die Stelle des Oikos, des Hauses, ist im Zuge der neuzeitlichen Ökonomie der Markt getreten. Heute scheint dagegen der Markt sich wieder in ein (mediales) Haus zu verwandeln und somit kommt es zu einer Privatisierung von Öffentlichkeit. Die Teilhabe am sogenannten öffentlichen Leben hängt wie einst bei den Griechen von der Stellung des Oikosdespoten ab, die die Stellung in der Polis festlegt. Im Unterschied zu früher wird heute das Allgemeine (publicus) ,,öffentlich" gegen das Besondere (privatus) getauscht. Gemeinplätze steuern kanalisiert ihre Adressen an, wobei es zur Multiplizierung des Öffentlichen ins Private und nicht umgekehrt zu einer Addierung des Privaten zum Öffentlichen kommt. In einer ungeselligen Gesellschaft, die sich aus einzelnen Körperschaften konglomeriert und ihre Formen und Inhalte nur noch in der Lage ist zu klonen und in konzernartigen Gebilden zu konsolidieren, tritt Kultur in den Dienst ökonomischer und politischer Werbung.

Daß Kultur in Ware transformiert, ist keineswegs ein neues Faktum, es ist im Gegenteil historisch gesehen die Grundvoraussetzung für unser heutiges Verständnis von Kultur und Kunst. Denn erst in Warenform übergeführte Kunstwerke können für einen Markt hergestellt, durch ihn vermittelt und allgemein zugänglich werden, womit das Kunstwerk sich dem Prinzip Information annähert. Klassische, traditionelle Kunst, die auf den Primat des Werkes und seine Aura setzt, wäre in diesem Konnex auf eine Stufe der Geldentwicklung anzusiedeln, auf der der Metallwert der Münze - der sich aus der Knappheit des Edelmetalles herleitet - im Vordergrund steht. Bilder zu kaufen und Skulpturen oder künstlerische Objekte allgemein zu sammeln hat daher einen alleine nostalgischen Stellenwert, der der Leidenschaft, alte Münzen oder auch neue Sonderprägungen als Wertanlage in Sammlungen zu vereinigen, nahe kommt. Kunst erklärt sich dabei im wesentlichen als ein fetischistischer Gebrauchswert, der an repräsentative Funktionen gebunden ist. Bildende Kunst und auch Musik blieben bis zum ausgehenden 18. Jh. weitestgehend Gebrauchskunst und Gebrauchsmusik, die dem Glanz und der Glorie von Gottesdiensten und höfischen Festlichkeiten dienten. Erst hernach kam es zur Heranbildung einer kapitalistischen Kunst, die für einen neuen Markt arbeitete, der Mittel zur Realisierung neuer Freiheiten, aber auch neuer Abhängigkeiten war. Medienkunst nimmt, eingeordnet in diese kurze Genealogie der modernen Kunstentwicklung, die Stellung einer kapitalistischen Kunst zweiter Ordnung ein. Sie ist die erste Kunstform, die kapitalistische Mechanismen und Technologien explizit nützt und reflektiert und sich zudem parallel zur Entwicklung des Geldes dem Prinzip der reinen Informationsbewegung annähert.

3. ,,Hausmusik"

Bei der ökonomischen Praxis der Kapitalform ist der bestimmende Zweck die Zirkulation und Transformation von Geld. Geld ist dabei nur eine Gestalt oder Erscheinungsform eines bestimmten Wertes und somit pure Information. In der kapitalistischen Praxis spielt daher die Durchgangsform einer Bewegung, die auf die Vermehrung des Wertes abzielt, die gewichtigste Rolle. Jeder Wertzuwachs ist bekanntlich ein Mehrwert und die Bewegung, die zu ihm führt, ist die Verwertung des Wertes. Diese Bewegung der Verwertung des Wertes ist endlos organisiert und darf in keinem Resultat zu einem Ende kommen. Von ihrer Struktur her ist die Verwertung des Wertes Selbstzweck, bei der gesellschaftlich gesehen kein Mehrwert entstehen muß. Seitdem die ökonomische Kategorie des Wertes in maschinensprachliche Informationswerte codiert wird, bekommt die Kapitalbewegung, wie es Marx formulierte, als ,,sich selbst verwertender Wert" eine neue Brisanz: Der Computervirus als idealer kapitalistischer Bandwurm oder ,,sich selbst verwertender Wert". Der Binärcode, der die Zeichen von ihrer Bedeutungskausalität befreit, stellt die Prämissen für einen neuen Markt als Umschlagplatz der Zeichen bereit. Aus diesem digitalen Zeichenraum, der eine Weiterentwicklung des Geldraumes darstellt, bezieht die Öffentlichkeit ihre wirtschaftliche, politische, soziale usw. Identität. Die Identität der Öffentlichkeit, die es als Ganzes nicht mehr gibt, die sich aber in ihren Teilen, den einzelnen Körperschaften präsentiert, ist eine Medien-Identität, die auf der Konvergenz der Zeichen beruht. Der heutige Marktbegriff und somit auch Öffentlichkeitsbegriff ist von einer Transformierung in digitale Medien geprägt, die nicht nur die Raum- und Zeitordnung verändern, sondern nicht zuletzt auch die Ökonomie des Zusammenlebens, die soziale Kommunikation und das Verständnis von Demokratie. Diese Austauschbarkeit von Bedeutungen, die die digitale Revolution charakterisiert, ist konzeptuell wie technisch der Ausgangspunkt von ,,Hausmusik". Die Intersubjektivität, die über Sinngrenzen bestimmt wird, wird durch das ,,interchange", die Verrechnung und Verwürfelung, ersetzt. Das Subjekt ist nicht mehr genötigt, nur innerhalb seiner eigenen Sinngrenzen zu identifizieren, sondern kann seine Identität instrumentalisieren und neuen Sinn in einem neuem Wahrnehmungsfeld erfahren. Legen heute noch weitgehend bestimmte Teilsysteme in autonomen Prozessen Sinngrenzen fest, die durch ihr permanentes Wiederholen - Replay - in den Systemen und Medien ihre Bedeutung erlangen, erschließen sich im ,,interchange" die Bedeutungen über die Bedeutungen beziehungsweise im Austausch der Bedeutungen. Radio oder Fernsehen als Massenmedien ziehen ihre Sinngrenzen, indem sie über das permanente Replay Meinungen, Songs oder Bilder perpetuieren. Konventionelles Radio ist ein Dampfradio, Platten, CDs sind Zahnräder, Tonbänder sind Transmissionsriemen eines mechanistischen Zeitalters und seiner Techniken und Methoden. Über die endlose Reproduktion ihrer Inhalte erschließen sich keine neuen Bedeutungen. Sie bleiben im Raum gefrorene und gefangene Instantzeit. Für ,,Hausmusik" ist daher nicht eine festgeschriebene Aufzeichnung eines Tonstückes in Form einer Partitur das Vorbild. Sie realisiert sich in einer Programm- und Gerätekonstellation, die Daten des wirtschaftlichen Welthaushaltes in Klänge und Töne tauscht. ,,Hausmusik" ist daher auch nicht Titel einer musikalischen Komposition oder eines künstlerischen Werkes, sondern beschreibt einen Prozeß. Abseits von konventionellen Werkkategorien entfaltet sich die Arbeit nicht in der Zeit, wie eine Schallplatte oder im Raum, wie eine Skulptur oder Installation, sondern über die wirtschaftliche Dynamik des Weltgeschehens im Medium selbst. Der Prozeß ist weder zeitlich (wie bei einer Schallplatte oder einem Tonband) noch räumlich determiniert. Der jeweilige tonale Zustand ist virtuell in der Struktur - einerseits in der des kapitalistischen Wirtschaftssystems, dem Raum des Geldmarktes, andererseits in der Gerätekonstellation und ihrem Programm - angelegt. Man kann dabei nicht von einer erweiterten Autorenschaft sprechen, man muß von einer Auflösung des Autorenbegriffes ausgehen, da beinahe die gesamte Erdbevölkerung - über fünf Milliarden Konsumenten - an der Hervorbringung des tonalen Klanges beteiligt ist. Die Wahl der Besetzung mit den klassischen Instrumenten Geige und Klavier ergibt sich aus ihrem angestammten Verwendungszusammenhang in der Salon- und Kammermusik. Mit der Präsentation von Musik in (halb)öffentlichen Salons privater Häuser, beginnend im 18. Jh., ist der Wegfall von kirchlichen und herrschaftlichen Repräsentationsannahmen anzusetzen. Kultur wird zu einem Teil der kapitalistischen Gesellschaft und wird Bestandteil des Marktes und der neuen kapitalistischen Repräsentationsformen. Die Besetzung mit den Instrumenten Geige und Klavier, die das analoge Interface zwischen dem Publikum und den ihm abgewandten Datenströmen schaffen, nimmt auf die historischen Rahmenbedingungen Bezug und ist daher als Zitat zu fassen, das über die Automatisierung und Roboterisierung der Instrumente seine Aktualisierung erfährt. Die Beschränkung auf die ausschließliche Entnahme von Wirtschaftsdaten des Welthaushaltes - der Reuters Datenpool bietet darüber hinaus Wetterdaten usw. an - begründet sich in der Konzeption, die alleine von der menschlichen Kultur und Zivilisation und ihren hervorgebrachten Daten ausgeht. Der ökonomische Welthaushalt als größtes jemals aus Zeichen und Symbolen errichtetes System stellt für ,,Hausmusik" das Gebäude oder Haus mit dem in seinen Teilbereichen oder Räumen zirkulierenden Werten dar, in denen die vom System generierten Daten on-line als Musik erklingen. Die durch den digitalen Code aufgebrochene lineare Sinnbildung und die daraus resultierende Austauschbarkeit der Bedeutungen (=Meineid), ermöglicht die Installierung eines neuen musikalischen Bedeutungsfeldes. Das soziale Zusammenleben, das über die Mediatisierung organisiert und kontrolliert wird, erfährt über die Instrumentalisierung des Geldraumes eine musikalische Encodierung, die das sozial Gemeine (gemein ist über die indogermanische Wurzel ,,mei", die ,,tauschen, wechseln" bedeutet, etymologisch mit Meineid verwandt) als medien-immanentes Ereignis dechiffriert.

4. Interaktionäre Kunst

Die Bezeichnung Aktie für Anteilschein, die auf das lateinische ,,actio" (Handlung, Tätigkeit) zurückgeht, verweist auf das ökonomische Prinzip der Interaktion; ohne Partizipationen entsteht kein Geschäft. Obwohl Inter- und Transaktion eine der ältesten Tätigkeiten darstellen, die in Form des Austausches von Handelsgütern immer schon eine wesentliche Komponente einer jeden Kultur bildeten, finden sie explizit erst in der Kultur des 20. Jh. Eingang in die bildende Kunst. Interaktive Kunstwerke verlangen vom Rezipienten eine Beteiligung, das heißt, ohne Einsatz kommt es nicht zur Realisation des Werkes. Das Naheverhältnis interaktiver Kunst zu geschäftlichen Unternehmungen macht über Interaktionen erzeugte künstlerische Bilder und Töne zu Partizipationsscheinen der besonderen Art. Die interessantesten interaktiv hergestellten Partizipationsscheine liefern hierbei nicht veränderbare Skulpturen, Happenings oder bestimmte Erscheinungen der Performancekunst, sondern Computerinstallationen. Denn die Anteilnahme an interaktiven Computerkunstwerken wird mit Zinsen belohnt. Etwa ein Bild oder Programm, das über einen Rezipienten in einer bestimmten Art und Weise beeinflußt beziehungsweise gereizt wird, erzeugt unzählige (bei guten ,,Geschäften" unendlich viele) neue Bilder. Das Bemerkenswerte dabei ist die Entstehung eines ,,kreativen Mehrwertes", der nicht wie bei früherer Kunst, die bei Inter- und Transaktionen sehr erfolgreich war und ist (etwa ein Bild von Arnulf Rainer oder Julian Schnabel), eine pekuniäre Rendite dem Händler einbringt, sondern eine künstlerische. Anstatt einer Maximierung des Profits in Geld kommt es zu einer Maximierung des Profits in Kreativität.

In Anlehnung an Goffmans These, daß soziale Interaktionssituationen an sich eine Realität erzeugen und als kleine Systeme ihre eigene Organisation hervorbringen, kann behauptet werden, daß interaktive Computersituationen stellvertretend zur personalen eine maschinelle Präsenz aufbauen, aus der eine spezifische Wirklichkeitskonstruktion (nicht zu verwechseln mit Simulation) resultiert. Bei ,,Hausmusik", wo den ökonomischen Kapitalien ein soziales und kulturelles Kapital zur Seite gestellt wird, kommt es durch den Einsatz von Rechnern, die über Telekommunikationsnetzwerke miteinander verbunden sind, und ihren Interfaces zu Transaktionen der drei Kapitalien. Nach Bourdieu, der alle drei Kapitalien als ,,symbolisches Kapital" zusammenfaßt, sind die Kapitalien nur unter dem Primat des ökonomischen Kapitals konvertierbar. Das Interaktionssystem des Computers ermöglicht aber die Hervorbringung einer speziellen Organisation, die das Problem der Konvertierbarkeit der unterschiedlichen Kapitalien auf der symbolischen Ebene der Maschinensprache gewährleistet. Nach Bourdieus allgemeiner Theorie von der Ökonomie der Praxis, bei der das gesamte soziale Leben eine ökonomische Durchdringung erfährt, werden symbolische Praktiken auf derselben Ebene angelegt wie wirtschaftliche Praktiken. Das Grundparadigma des Sozialen erfolgt daher aus einem konfliktreichen Marktgeschehen. Selbst Sprachpraxis und Praxisform allgemein können bei Bourdieu nur aus der jeweiligen Konjunktur (im erweiterten Sinne) erklärt werden. Interaktive Kunst, also Kunst, die basal auf ein Aktions- und Reaktionspotential aufbaut, kann sich wesentlich unmittelbarer in symbolische Kapitalflüsse einschalten, aus diesen hervorgehen, sich verändern und komplexere Konstruktionen/Re-Konstruktionen von Wirklichkeiten vornehmen. Erst durch Interaktion mit und in Systemen entstehen emanzipierte Kunstwerke, die auf den selben Strukturen der verschiedenen Symbolsysteme (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst), die sie hervorbringen, beruhen, und somit lebendiger Teil und nicht nur Produkt dieser Systeme sind. Kunstproduktion tritt in ein komplexes Stadium, indem sie die Felder ihrer Entstehungsweisen und ihre Wechselbeziehungen zu anderen Bereichen über die Einbeziehung und Reflexionen ihres eigenen Systems in ihre Werke projiziert. Dadurch, daß die Produktion von Kunst mit der Produktion von Welt einhergeht, wird es möglich, neue Fragestellungen und Untersuchungen in neue Richtungen in die künstlerische Arbeit, und das nicht nur auf einer rein konzeptuellen Stufe, einzublenden.

Das Kapital, das eine Metapher für soziale Macht ist, interagiert bei ,,Hausmusik" im Real-Time-Modus und verändert den inneren Status in den Rechensystemen. Die Fülle von Signalen, die der Kapitalfluß in den Rechensystemen erzeugt, sind in ihrer Quantität den menschlichen Sinnen in Echtzeit nicht mehr zugänglich - außer als Musik. Im Gegensatz zu vielen anderen interaktiven Kunstwerken, die ein Gefühl der Intimität oder der harmonischen Synergie von Mensch und Maschine suggerieren, bleibt das Interaktionspotential bei ,,Hausmusik" den realen Gegebenheiten angepaßt: Nur wer das Kapital beziehungsweise die soziale Macht besitzt, hat die Fähigkeit, den Klang zu beeinflussen. Das Publikum kann in demselben Maße in ,,Hausmusik" eingreifen und Töne aktivieren oder verändern, wie es in der Lage ist, auf den Rest der symbolischen Welt einzuwirken. Der Rezipient besitzt die gleiche Entscheidungsfähigkeit wie im Alltag und das Kunstwerk ist gleich totalitär oder demokratisch gestaltet wie die politisch ökonomischen Systeme, denen die Daten entnommen wurden. Das Set von Bedingungen, das die Interaktionssituation festlegt, nämlich wechselseitige Wahrnehmbarkeit, die sich daraus ableitenden Kommunikations- und Selektionsprozesse und die damit verbundene Erzeugung von Erwartungen, unterscheidet sich bei ,,Hausmusik" erheblich von üblichen interaktiven Computerinstallationen. Die Informationskapazität eines Systems, die bekanntlich log2 aller Zustände ist, die es annehmen kann, sprengt bei der Bearbeitung offener Symbolsysteme die Berechenbarkeit, da diese nichtdeterministisch angelegt sind. Dadurch sind auch die Strukturmerkmale im Vergleich zu herkömmlicher interaktiver Kunst andere. Auf den Eingabevorgang, der sich hierarchisch vom Einsatz des einzelnen Konsumenten über Handel, Produktion, politisch ökonomischen Rahmenbedingungen usw. bis zur elektronischen Datenerfassung in Banken und Börsen erstreckt, folgt bei ,,Hausmusik" ein interner Verarbeitungsschritt, bei dem Wert auf die exakte Umsetzung der Eingabedaten in den Ausgabevorgang des Klangs ohne bereinigende oder beschönigende Beeinflussung gelegt wird. Die Datenausgabe, die auf Grund der Instrumentalisierung als interaktiv vom Welthaushalt generierte Musik zu interpretieren ist, zitiert von ihrer klanglichen Präsentation her das traditionelle Format konventioneller Kammer- oder Salonmusik. Nur wer der Wirtschafts- und Geldmacht Parole bietet, interagiert mit der bourgeoisen Hausse- und Baissemusik. Innerhalb des Spektrums von Hausse (Hausse bezeichnet neben dem wirtschaftlichen Aufschwung und dem Steigen der Börsenkurse bei Streichinstrumenten den Griff am unteren Bogenende) und Baisse entfaltet sich das bürgerlich konsumerische Interaktionspotential eines demokratischen Verhaltens und einer sich selbst korrigierenden Gesellschaft. Die Interaktionsbereitschaft entscheidet, ob die Architekturen weltweiter Systeme ein globales Haus oder ein biedermeierliches Ambiente bilden.


Quellenangabe

Thomas Feuerstein, Hausmusik, Digitaler Meineid - das Gemeine in der Kunst. In: SYSTEM-DATEN-WELT-ARCHITEKTUR, Triton-Verlag, Wien 1995, Seite 34 ff.

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