Text

Thomas Feuerstein

ADVANCED QUERY ART_SERVER

Unsere Welt hat eine andere entdeckt.
Michel de Montaigne

SERVERSUBJEKT

Was Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert über Amerika anmerkte, findet im 21. Jahrhundert seine Gültigkeit in Bezug auf das Internet. Doch im Unterschied zum Navigator und Explorer der Seereisen feiert der Datenreisende seine Entdeckungen und Abenteuer in einem Bewusstsein, dass er physisch nicht mehr aufbrechen kann, weil er immer schon angekommen ist. Er ist zum touristischen Paradox eines oknophilen Philobaten geworden, der zu Hause bleibt, um das Weite zu suchen. Wie einst der Seereisende seiner Mercator-Karte vertraute, die aufgrund metrischer Verzerrungen den Umweg als kürzeste und sicherste Strecke auswies, folgt der Internetreisende dem Ausspruch von Hermann Graf Keyserling: „Der kürzeste Weg zu sich selbst führt um die Welt herum.“ Auch wenn der Vergleich zu kurz greift, sind Server eine Art Hafen, in dem Waren beziehungsweise Daten umgeschlagen, gelagert und verfrachtet werden, und wie einst in der realen Geopolitik entstehen heute um große Server und Suchmaschinen virtuelle Handelszentren und Shoppingmalls. Der Hafen als Knotenpunkt von Im-port/Ex-port beziehungsweise von Handel, Wirtschaft und damit von Kapitalismus und Kolonialismus konstituierte lange vor der Ablösung des geografisch-ökonomischen Raums der Produktion durch den virtuellen Raum der Derivatgeschäfte das Gesetz des semper et ubique, das nach dem Prinzip von Simultaneität und Dissemination eine panoptische Kontrolle von Markt durch globaloperierende Waren- und Informationsserver etablierte.Doch die Analogiekette zwischen Hafen und Server würde spätestens beim kunstgeschichtlichen Vergleich historisch prosperierender Hafenstädte als blühende Kunstzentren mit zugriffsstarken Sites enden. Selbst die Metapher eines Flughafens oder das futuristische Szenario eines Weltraumhafens entspricht weder dem technischen Setting noch der subjektiven Praxis des Users. Das Navigieren von Server zu Server vermittelt abgesehen von Landezeiten vielmehr das Gefühl einer Implosion von Zeit und Raum durch eine an ihr Ende gekommene Geschwindigkeit, die eine Instantzeit und einen Instantraum generiert, die zusammen wiederum ein omphalisches Gefühl der Inertie als Ausdruck einer doppelten Immanenz von Netz und Psyche erzeugen. Der User sei hier auch deshalb mitgedacht, weil in letzter Konsequenz der Netzidee jeder User ein mobiler Server ist, was in wenigen Jahren vielleicht schon mit in Mobiltelefonen integrierten Datenbanken und permanenter Online-Verbindung Alltag sein könnte. In diesem Sinn müssten Fragen nach dem Server unmittelbar an Fragen nach dem Subjekt gekoppelt werden, womit Artserver und Künstlersubjekt, Identität und Avatar, Wohnort und IP-Adresse endgültig zu Synonymen geworden wären. Der Begriff des Servers entwickelt sich hier zur Grenze zwischen System und Umwelt, zu einer Art Datenkörper, in dem eigene Informationen mit Informationen der „anderen“ (Netz)welt interagieren und eine imaginäre Einheit bilden: Dies wäre mit Lacan gesprochen das Spiegelstadium des Servers. Bildete im 19. Jahrhundert für Goethe das Subjekt eine Mehrheit, war im 20. Jahrhundert für Deleuze das Subjekt eine Maschine, könnte im 21. Jahrhundert das Subjekt zu einem Server und im 22. Jahrhundert der Server zu einem Subjekt werden. Montaignes Satz müsste spätestens zu diesem Zeitpunkt umformuliert werden: Eine andere Welt hat unsere entdeckt.

SERVERDOUBLE

Der Begriff des Servers kann als kulturelles Dispositiv niemals alleine physikalisch, sozial, technisch, psychisch, semiotisch etc. gefasst, sondern muss immer als heterogenes Gefüge einer gesellschaftlichen Drift gedacht werden. Der Server speichert und administriert nicht nur Weltdaten, er generiert und transformiert auch die Welt, in der er operiert und die er repräsentiert. Insofern ist der Server gleichzeitig autopoietisch, exopoietisch und heteropoietisch, weil er sich erstens selbst produziert, indem er sich beziehungsweise seine technische Konstitution reflektiert und repliziert, weil er zweitens dazu beiträgt, Bedeutungswelten zu entwerfen, die äußere Wirklichkeiten erzeugen und bestimmen und weil er drittens vice versa von äußeren Wirklichkeiten stimuliert und letztendlich fabriziert wird. In der buddhistischen Allegorie von Indras Netz wäre der Server eine Kristallperle, die in sich vom „großen Licht“ der elektronischen „Noosphäre“ durchdrungen wird und nicht nur das Licht von jeder anderen Kristallperle im Netz, sondern auch jede Spiegelung jeder Spiegelung im ganzen Universum spiegelt. Die Frage, ob Server eine Internetgeografie als Abbild der realen Welt wie in Borges Geschichte des Volkes der Kartografen[1] oder eine davon abgekoppelte eigengesetzliche Sphäre entwerfen, erscheint wieder als aktuell, denn elektronische Netze entfalten sich wie Indras Netz im Spannungsfeld einer Welterzeugung von per analogiam naturae bis creatio ex nihilo. Der Server mutiert hier zu einem paradoxen Organismus anhand dessen sich nicht die kollektive Intelligenz einer Infosphäre exemplifizieren lässt, sondern das Spiegelbild oder besser das Double der Welt einen obsessiven Charakter einer kollektiven Wunschmaschine oder genauer einer pataphysischen Junggesellenmaschine annimmt. Ob dieses Double durch die Absenz der physischen Welt sich in der leer repetierenden Bewegung der Funktion reiner, d.h. virtueller Kreation erschöpft und zum Lebensersatz und zur Wirklichkeitsflucht wird, oder ob es in der Lage ist polyvalente Verflechtungen zwischen elektronischen und körperlichen Realitäten herzustellen, entscheidet die Interdependenz zwischen technischer Immanenz und sozialer Transferenz. Kunst bekommt hier die traditionelle Vermittlerrolle einer allegorischen Kommunikation zugesprochen, wobei Übersetzungsarbeit sich nicht auf das Piktografische beschränkt, sondern den „Sourcecode“ der verschiedenen Systeme und Modell kompiliert.

SERVERIMMANENZ

Bei pessimistischer Einschätzung der Netzkultur antizipiert das Internet die Entwicklung einer breit angelegten gesellschaftlichen Tendenz, soziokulturelle Qualitäten gegen pekuniäre und voyeuristische zu tauschen. Diese Gefahr erkannte Netzkunst von Beginn an, indem sie in modernistischer Tradition sozialutopischer Avantgarden mit subversiven Taktiken gegen die Konsolidierung einer digitalen Ökonomie und für die Wahrung digitaler Bürgerrechte eintrat. Politik und Kunst bildeten einen gemeinsamen kontextuellen Knoten, der durch die Verneinung des Kunstanspruchs der meisten Proponenten aber zunehmend gordisch wurde. Begünstigt durch einen Hackermythos sollten sich die Grenzen zwischen Kunst, Politik und Leben in einer medienspezifischen Netzpraxis auflösen und automatisch einen Widerstand gegen überkommene Formen des Kunst- und Kulturbetriebes entfalten. Das Netz wurde als alternative Matrix gedacht, in der der Begriff Art_Server vor wenigen Jahren noch als anachronistisches Rudiment einer netzexternen Kategorienbildung sozialer Systeme gegolten hätte, weil „Art“ eine Systemgrenze setzt, die multidisziplinären Entgrenzungsrhetorik entgegenläuft. Gerade durch seine disziplinäre und kategoriale Hybridität erschien das Netz als idealer „Ort“ in Nachfolge der Konzeptkunst Institutionen zu unterlaufen und Kunst als System eines sozialen Bezugsrahmens der Rezeption und Interpretation kritisch zu hinterfragen. Diese etwas naive, utopische Vorstellung, Systemkritik innerhalb eines Systems systemunabhängig zu gestalten, wurde aber bald vom Kunstsystem affirmativ korrigiert, woraus die janusköpfige Doppelstruktur einer Netzkunst resultiert, die als mittlerweile musealisiertes trojanisches Pferd ihr Subversionsparadigma „im Bauch des Feindes“ kultiviert. Netzkunst ist, wie zuvor auch jeder andere avantgardistische Antikunst-Habitus, zum Garanten für die Ambiguität und Evolution des Kunstsystems geworden und wird in naher Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem wichtigen Systemerhalter der kulturell-gesellschaftlichen Kategorie Kunst mutieren.

Für eine Kunst, die trotz Immaterialität und Konzeptualität weitgehend von den strengen Konditionen des Internet samt seinen diversen Browsergenerationen, Plugins und Leitungskapazitäten bestimmt ist, liegt es nahe, vergleichbar der Übergangsphase von der Konzeptkunst zu medialen Kunstformen in den 1960er Jahren, wo umfangreiche Untersuchungen zur Materialität der Ausdrucksmittel unternommen wurden, medienimmanente Reflexionen und Dekonstruktionen der spezifischen Modi der Netzkommunikation zu verhandeln. Netzkunst als eine Methode, die in historischer Affinität zu den Verfahrensweisen des Expanded Cinema oder frühen Videokunst eine Kunst beziehungsweise Webpages zweiter Ordnung installiert, um das Netz beobachtend zu analysieren, kann wie zurecht beschrieben als ein „Materialprüfungsamt des Internet“ bezeichnet werden.[2] Dass dies für eine Konstituierungsphase einer neuen Kunstform ästhetisch konsequent und kunsthistorisch stringent ist, leitet sich von den bestimmenden Paradigmen der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ab, eröffnet aber noch keine Perspektive möglicher Paradigmen einer zukünftigen Kunstgenesis.

SERVERKONTINGENZ

Obgleich nicht betont werden muss, dass ein netzimmanentes Arbeiten mit spezifischen Bezugnahmen auf das technische und kommunikative Setting des Internet samt seinen Produktions- und Konsumtionsbedingungen eine fundamentale Basis für jegliche Form der Konstruktion von Kunst im Netz darstellt, sollte dennoch im Interesse einer größeren Offenheit zwischen den Grenzen der einzelnen Kunst- und Gesellschaftsformen sowie einer höheren theoretischen, ästhetischen und künstlerischen Kontingenz diese Selbstreferentialität zugunsten semiotisch komplexerer Codes erweitert werden. Der Begriff Art_Server könnte hier einen systemischen Knoten Bilden, der als Schnittstelle zwischen technischen, symbolischen und sozialen Räumen vermittelt und an der Prozessierung von Codes sich beteiligt, die elektronische Räume zu Handlungsräumen eines kulturellen Kommunikationstransfers ausbauen. Insofern wäre die Aufgabe des Art_Servers als Schnittstellenmultiplikator von Methoden und Konzepten einen „schmutzigen“ Diskurs zu führen, der auch Inhalte der per definitionem ausgeschlossenenen“netzunspezifischen“ Kunst einblendet.

Ein Art_Server hätte somit die Funktion eines Attraktors, der über die Mischung von Politik, Technologie und Gesellschaft hinaus künstlerische, ästhetische und philosophische „Warez“ entwickelt und austauscht, die enzymatisch und delirant Systeme wechselseitig mit einer chiasmischen Kontingenz infizieren ohne Differenzen einzuziehen. Diesbezüglich beschränken sich die Aufgaben und Funktionen eines Art_Servers nicht nur auf die Virtualitäten des Lebens, sondern implementieren insbesondere auch die Effekte und Wirkungen des Virtuellen auf das „reale“ Leben beziehungsweise auf dessen physischer Objekt- und Körperebene.

SERVERPOIESIS

In Anlehnung an Ted Nelsons These, dass Computer „literarische Maschinen“ sind, lässt sich angesichts der herrschenden Mediatisierung von Gesellschaft und der Digitalisierung von Welterzeugung, die von der Symbol- bis zur Warenproduktion reicht, von einer neuen Form der Weltliteratur sprechen. Diese binäre Netzpoiesis ereignet sich an der Schnittstelle des Virtuellen zum Realen und schafft neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die menschliche Existenz, die in Zukunft besonders für eine Kunst, die an ihrer gesellschaftlichen Relevanz laboriert, von Interesse und Bedeutung sein werden.

In elektronisch vernetzten, virtuellen „Sprachgemeinschaften“ herrschen postsymbolische Kommunikationsformen, die nicht klassische Repräsentationen zur Beschreibung einer Sache benötigen, sondern die Sache selbst unmittelbar zur Erscheinung bringen. Dieser neuen Sprachlogik entspringen nicht nur bunte Grafiken und Töne, sondern Codes, die wechselseitig Materie in Daten und Daten in Materie „verrechnen“. Technische Artefakte wie ein Flugzeug der Type Boeing 777, welches als erstes seiner Art disloziert und ohne zeitliche Unterbrechung in einem Verbund von Rechenmaschinen „geschrieben“ wurde, kündigen eine neue Interdependenz zwischen dem Virtuellen und dem Materiellen, dem Symbolischen und dem realen an. Auch wenn momentan zwischen den Konstruktionsprogrammen und dem fertigen Flugzeug noch als Schnittstelle Menschen und Maschinen in Werkshallen stehen, so nähern sich diese immer mehr Peripheriegeräten eines Computers an. Demzufolge könnte man ein Produkt wie eine Boeing 777 als eine neue Textgeneration verstehen, die ein Schreiben nach der Sprache antizipiert und eine Avatarisierung von Kultur ankündigt, die eine „Verfleischlichung“ des Imaginären verunmittelbart.

Für die Praxis des Art_Servers bedeutet dies sowohl sowohl eine theoretische als auch praktische Schnittstellenarbeit zwischen dem Realen und dem Virtuellen, um derartigen antagonistischen Wirklichkeitsbedingungen und damit Machtverhältnissen gerecht zu werden. Der Art_Server dient dabei nicht nur als Informationspool und „hostet“ als Artothek, Bibliothek, Diskothek oder Videothek Daten, sondern agiert als eine Art „Hospital“, das diagnostiziert, operiert und generiert. Für eine junge Künstlergeneration, die intermedial digitale Bilder, Töne und Versatzstücke des Reale gleichberechtigt in ihren Arbeiten modular zu Texturen verknüpft und manipuliert, existiert die schizophrene Spaltung von Welt in eine reale, materielle und eine virtuelle, immaterielle in einem wesentlich geringerem Ausmaß. Server beziehungsweise elektronische Netze allgemein übernehmen in nomadischen Lebenszusammenhängen flottierender und prozessualer Produktionen eine omphalische Rolle, indem sie als dislozierte Ateliers und Labore fungieren. Künstlerische Arbeiten ereignen sich dabei zunehmend zwischen den Medien, da sie weder auf ein singuläres Werk noch auf ein einzelnes Medium insistieren und somit die Verknüpfungen einzelner Medien, Wissensgebiete und Handlungsformen an Bedeutung gewinnen. Gerade die Verlinkung von Netzräumen mit Realräumen begünstigt eine derartige intermediale Praxis, die sich an Naht- und Schnittstellen entfaltet und in der räumlichen, medialen und semiotischen Lücke ihre überraschenden Sinnhorizonte entdeckt. Der Art_Server bekäme hier die Aufgabe die Identität von Medium und Botschaft zu brechen, indem er seine Bedeutungen nicht aus dem Medium und seinen Repräsentationen extrahiert, sondern über Neukonstellationen, Rekombinationen, Recodierungen und chiasmischen Verlinkungen Knoten bildet, die die Einheit von Form und Inhalt zuerst cracken, um sie dann zu neuen Komplexitäten zu polymerisieren.


[1] Jorge Luis Borges, „Borges und ich“, in: Gesammelte Werke, Bd. VI, München 1982, S. 121. Borges erzählt eine Geschichte von Suárez Miranda, die von einem Volk berichtet, das eine Karte des Reiches in der Größe des Reiches erstellt.

[2] Vgl. Tilman Baumgärtl, [net.art] Materialien zur Netzkunst, Nürnberg 1999.

Thomas Feuerstein, "Advanced Query Art_Server", in: Margarethe Jahrmann und O.K. Centrum für Gegenwartskunst (Hg.), Art_Server: Stargate to Netculture, Wien 2000, S. 11 ff.

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